Die Entführung der Musik
der Ge- schmacklosigkeit, doch wenn es um Widerlichkeit pur ging, konnte es niemand mit Hieronymus Hinckel aufnehmen. Einige kamen ihm je- doch nahe, wie Jon-Tom zugeben mußte, als seine gequälten Ohren zu klingen begannen. Um den akustischen Horror abzuwehren, hatte der arme Mudge nichts als sein Schwert, das er mit beiden Händen vor sich ausstreckte, als wäre es eine Art stählerner Talisman. Doch die Schneide konnte zwar problemlos durch Fleisch und Knochen drin- gen, war aber nutzlos gegen diese von Grund auf schlechte Musik.
Wieder einmal zog der Otter sich hinter seinen Freund zurück. »Im Namen des Großen Atems, was ist das?«
»Geister.« Es wurde zu einem echten Kampf, angesichts dieser ü- berwältigend gräßlichen Töne noch irgendeine Art von musikalischer Äußerung aufrechtzuerhalten. »Die Schatten toter Musiker aus meiner Welt.« Jon-Tom zuckte schmerzlich zusammen. »Hier müssen die schlimmsten Versager und talentlosesten Künstler der Unterhaltungs- musik zusammen gekommen sein.«
Mit wild funkelnden Augen glitt Hinckel selbstsicher von seinem Thron herunter und stellte sich dem Paar entgegen. »Hey, sie sind schleeeecht.«
»Das sagst du mir.« Ein besonders mißtönendes Twennggg einer akustischen Gitarre trieb Jon-Tom die Tränen in die Augen. An die- sem Riff konnte man zerschellen.
Hinckel kam weiter auf sie zu. »Sie waren einfach mißverstanden, genau wie ich. Obwohl natürlich keiner ebensogut ist.«
Mudge zog sich von der abscheulichen Performance zurück. »Tu doch was, Kumpel! Lange 'alt ich es nich mehr aus!«
Als Jon-Tom einen gregorianischen Gesang vernahm, der zu einem Discorhythmus exekutiert worden war (im wahrsten Sinne des Wor- tes), mußte er schließlich weichen. Der Rückzug wurde ihm von ei- nem chaotischen Elvis-Imitator aus Uttar Pradesh abgeschnitten, der mit einer Stimme, die sich wie eine Ausgeburt der schrecklichen Phantasie Lovecrafts anhörte, ›Jailhouse Rock‹ zu singen versuchte. Seine leichenhafte Gestalt wurde durch einen weißen Anzug vervoll- ständigt, der mit Ziermünzen behängt war und Presleys Las-Vegas- Auftritten nachempfunden war. Dazu gehörten natürlich lange Kote- letten und eine mit Speckschwarte pomadisierte Schmalzwelle. Dies war schlimmer als eine Karikatur, es war eine tödliche Bedrohung.
Ein auf dünnen Fledermausflügeln schwebender vierschrötig- tonnenförmiger Ex-Hilfsbuchhalter aus den ärmeren Vorstädten Osa- kas gab sich alle Mühe, einen klassischen Song von Bessie Smith her- vor zu schmettern (im wahrsten Sinne des Wortes). Hätte man Titan mit einer Kettensäge geschnitten, wäre der Klang gefühlvoller gewe- sen.
Dazu kam ein Möchtegern-Rocker aus Ostpreußen, der durch die Geißelung von ›Stairway to Heaven‹ mit dem Akkordeon sein Teil zu der Klangkatastrophe beitrug, eine Schülerin aus den Neuengland- Staaten, die im Yale-Sweater, in weißen Freizeithosen und Bade- schlappen mit einem fürchterlichen Neuengland-Akzent darum kämpfte, das Beste von Joe Cocker zu imitieren, und eine humorlose Lesbe aus Des Meines, die die Ewigkeit davon überzeugen wollte, daß sie auf ihrer quäkenden Kazoo-Tröte tatsächlich ›I will Always Love You‹ spielen konnte.
Und noch viele, viel zu viele andere.
Wäre die Bedrohung nicht so echt gewesen, hätte es tödlich ko- misch sein können. Wie die Dinge standen, stimmte das zur Hälfte, und Jon-Tom war sich der wachsenden Gefahr deutlich bewußt. Er mußte eine Möglichkeit finden, sich zu wehren. Doch es war schwer, an Akkorde und Verse zu denken, wenn einem die Ohren schmerzten, die Zähne musizierten und vor den eigenen Ohren die Seele der Musik selbst in Stücke gerissen wurde.
In der Mitte dieser jaulenden, kakophonischen Gespensterschar, die er aus einem unvorstellbaren Totenhaus des Pop beschworen hatte, stand Hinckel mit seiner Mundharmonika und grinste wie ein boshaf- ter Troll.
Von allen Seiten belagert, wand sich Jon-Toms purpurroter Nebel zuckend unter dem dissonanten Angriff. So wie Antimaterie die Mate- rie auslöschen kann, so bedrohte Hinckels Antiharmonie jeden Bann- gesang, den Jon-Tom hervorzubringen versuchte.
Die grauenhaften Vibrationen drohten die unersetzliche Duar in Stücke zu reißen. Wenn die Duar ihn im Stich ließ, war alles verloren. Jon-Tom sah keine andere Rettung als den Rückzug.
»Midi, veni, vici!« gackerte Hinckel. Dann winkte er seine Armee von Versagern hinter sich her und nahm die Verfolgung der Eindring- linge auf.
Mit
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