Die Entfuehrung
Zweifel zu lassen, dass sich an ihren Plänen nichts geändert hatte. »Natürlich werde ich da sein. Aber wenn ich eine Erklärung zur Entführung abgebe, dann erst später. Erst nach einundzwanzig Uhr.«
»Das ist viel zu spät. Wir brauchen etwas für die frühen Abendnachrichten.
»Das geht nicht.«
»Warum zum Teufel geht das nicht?«
»David, hier geht es buchstäblich um Leben und Tod. Ich übertreibe nicht.«
»Ich übertreibe auch nicht. Die Zehn- und Elf-Uhr-Nachrichten sind einfach zu spät, verdammt noch mal. Danach können Sie die Wahl nur noch kippen, wenn Sie höchstpersönlich die Entführer beim Bezirksgefängnis abliefern, Kristen Howe unversehrt zu ihrer Mutter bringen und sie eigenhändig ins Bett stecken.«
Wenn alles gutgeht.. ., dachte Allison. »Wir können später weiterreden.«
»Aber-«
»Wir treffen uns im Hotel«, sagte sie und schaltete ihr Handy ab.
Allisons Mitarbeiter kehrte um 13:15 Uhr mit dem Koffer und den Videobändern, die Peter ihr zusammengepackt hatte, in ihr Büro zurück. Geplant war, dass sie heute Nacht in Washington im Hotel bleiben und am Morgen direkt nach Chicago fliegen sollte, um ihre Stimme an ihrem Heimatort abzugeben. Peter hatte beschlossen, zu Hause zu bleiben und von da aus abends zum Empfang zu gehen.
Allison bestellte sich aus der Cafeteria ein Sandwich und aß alleine im kleinen Besprechungszimmer ihres Büros. Der Karton mit den Videobändern lag auf dem rechteckigen Tisch. Der Fernseher und der Videorecorder standen ihr direkt gegenüber auf einem Metallgestell. Sie versuchte, eine Auswahl zu treffen, da sie nicht annähernd genug Zeit hatte, alle Bänder von Anfang bis Ende durchzugehen. Sie fing an mit einem Band, auf dem das nächtliche Geschehen um ihr Haus herum nach der Entführung zu sehen war. Es war ihr regelrecht unheimlich, dass die Polizei es damals genau aus dem Grund aufgenommen hatte, aus dem sie es sich jetzt ansah: Bekanntlich kehrten Entführer an den Tatort zurück und halfen sogar bei der Suche nach dem Täter.
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als die Kamera über die aufgeregte Szenerie jener Nacht schwenkte und von der Straße gleichmäßig bis ans Haus heranfuhr. Polizeiautos mit blinkendem Blaulicht standen auf dem Gehweg und auf dem Rasen vor dem Haus. Freunde und Nachbarn strömten herbei, von Sorge und Neugier getrieben. Die Polizei drängte sie hinter das gelbe Absperrband zurück. Im Mittelpunkt des Geschehens war Allison selbst zu sehen - sie stand auf der Veranda und sprach mit einem Polizeibeamten. Sie wirkte benommen, wie im Schock. Sie lehnte sich an die Tür und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihr Morgenmantel war bis zum Saum aufgerissen. An ihren Ärmeln hingen Blätter und Zweige, die sie bei ihrer panischen Suche nach ihrem Baby in den Büschen abgerissen hatte.
Das Besprechungszimmer begann sich zu drehen. Sie starrte auf den Fernseher und spürte, wie die gleiche Benommenheit wieder einsetzte, während sie sich selbst auf dem Bildschirm betrachtete. Der auf dem Videoband gesprochene Text ließ sie zusammenzucken. Es war schon acht Jahre her, aber sie erkannte noch die Stimme des Polizisten, der am Schauplatz ermittelt hatte. »Datum: einunddreißigster März neunzehnhundertzweiundneunzig, Null Uhr fünfunddreißig. Ort: Royal Oak Court Nummer neun-null-eins. Betroffene: Emily Leahy, weiß, weiblich, vier Monate alt. Fallnummer: neun zwei-eins null eins drei sieben.«
Allisons Herz raste. Die Nacht, die ihr ganzes Leben verändert hatte. Eben noch war Emily ein schlafender Engel in seinem Bettchen gewesen. Die darauffolgenden acht Jahre war sie nur noch Fallnummer 92-10137
Obwohl es sie erschöpfte, ging Allison das ganze Band durch - und weitere. Die Bänder vom Tatort, die Bänder von der Suche, die Bänder über die Aktivitäten der Bürgerinitiative gegen Kriminalität und die Aufzeichnungen der örtlichen Nachrichtensendungen - sie holte alles auf den Bildschirm und achtete dabei besonders auf die Personen im Hintergrund. Um schneller voranzukommen, ließ sie einige Bänder im Schnelldurchgang vorlaufen. Die Bänder, die sie durchgesehen hatte, legte sie in einen Karton auf dem Fußboden. Hin und wieder nippte sie an ihrer Diät-Pepsi, während sie sich auf einem Block kurze Notizen machte. Leider war es ihr während der eineinhalb Stunden, in denen sie die Bänder gesichtet hatte, nicht gelungen, einen Verdächtigen auszumachen, auf den Harley gehofft hatte. Sie hatte auf
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