Die Entfuehrung
Harley, »war er ganz bestimmt der glücklichste und liebevollste Mann, sobald Sie ihn brauchten. Sobald Sie eine Krise hatten. Sobald es Probleme bei Ihrer Arbeit gab. Sobald jemand, der Ihnen nahestand, krank war oder im Sterben lag.«
»Sobald ich im Begriff war, eine Wahl zu verlieren«, fügte sie hinzu
Sie sahen sich an, und beide wussten, dass der jeweils andere plötzlich an Kristen Howe denken musste. Das Klingeln von Allisons Handy beendete das Schweigen. Harley nickte. Allison meldete sich.
»Hallo.«
Die Stimme am anderen Ende war kühl und herablassend. »Wussten Sie schon, dass in den letzten acht Jahren nur einhundertneunzehn Kleinkinder unter sechs Monaten in den Vereinigten Staaten entführt wurden?«
»Was wollen Sie?«
»Wussten Sie auch, dass von diesen Entführungen hundertzehn aufgeklärt wurden? Die meisten innerhalb weniger Tage?«
Allisons Hände zitterten. Sie sagte nichts.
»Ihre Emily war eine von neun, die nie gefunden wurden. Neun. Haben Sie das schon mal ausgerechnet, Allison? Neun Babys in den ganzen Vereinigten Staaten in acht Jahren. Mehr als vier Millionen Geburten jedes Jahr. Was glauben Sie, wie groß Ihre Erfolgschancen hierbei sind? Aber Sie sind ja vom Erfolg verwöhnt. Wie viele Frauen waren denn schon Justizministerin? Wie viele Frauen haben schon für die Präsidentschaft kandidiert?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Sie Schwein?«
»Worauf ich hinaus will?« höhnte er. »Ich würde sagen, das Schicksal hat Sie eingeholt. Im guten wie im schlechten Sinne. Wir treffen uns im Hotel. Um einundzwanzig Uhr. Oder beide Kinder sind tot.«
Es klickte in der Leitung
55
Tony Delgado bewegte sich, so schnell er konnte, und verfluchte seinen Onkel Vince dafür, dass er ihm die Drecksarbeit überließ. Die Temperatur in der Garage betrug nicht mehr als zehn Grad, aber sein Hemd war unter den Achseln völlig durchgeschwitzt. Innerhalb einer halben Stunde hatte er den Lieferwagen durch die Hecktür komplett beladen. Er schob die letzten der 20-Liter-Plastikeimer in den Laderaum und trat dann einen Schritt zurück, um seine Arbeit zu bewundern. Fünfzig Eimer insgesamt, zwanzig Kilo das Stück. Vier Stück waren immer vom Boden bis zur Decke aufeinander gestapelt, eine Reihe links, eine Reihe rechts. In der Mitte hatte er bis vorne hin einen langen, schmalen Gang freigelassen.
Er drehte sich um und hob eine lange schwarze Kiste an. Sie war leicht und leer. Er ließ sie in den Gang gleiten und öffnete sie wie einen Sarg.
»Gute Arbeit, alter Junge«, sagte er sich.
Er ging ins Haus zurück, blieb an der Küchenspüle stehen, um ein Glas Wasser zu trinken, und wandte sich dem hinteren Schlafzimmer zu. Die Tür war geschlossen, und er trat ein, ohne anzuklopfen.
Kristen Howe saß fertig angezogen auf dem Fußboden. Ihre Augen waren verbunden. Über ihrem Mund war ein Klebeband. Ihre Hände waren ebenso wie ihre Füße zusammengebunden. Beim Geräusch der nahenden Schritte spannte sich ihr Körper an.
Tony löste die Handschellen, mit denen sie am Bettpfosten gefesselt war. »Wir müssen gehen«, sagte er, »steh auf.«
Sie erhob sich langsam und widerwillig. Er löste ihre Fußfesseln, dann drehte er Kristen zur Tür hin. »Los«, sagte er
Sie machte kleine Schritte. Unter der Augenbinde war alles schwarz, und sie musste sich ihren Weg mit den Füßen ertasten. Auf ihrer Schulter konnte sie die Hand spüren, mit der der Entführer sie durch den Raum und auf den Flur dirigierte.
Sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Kühle Luft strich ihr über das Gesicht. Eine Stufe abwärts. Der Fußboden fühlte sich jetzt wie Beton an. Die Garage?»Und halt den Mund«, befahl er.
Sie zuckte zusammen, als er sie hochhob.
»Da hinein«, sagte er. Er legte sie der Länge nach in die Kiste, mit dem Kopf nach vorne. Er schloss wieder die Handschellen um ihre Handgelenke und band ihre Fußgelenke zusammen. Er überprüfte den Sitz ihrer Augenbinde und des Pflasters auf ihrem Mund. Alles klar. Er schob die Kiste soweit nach vorne, wie es ging. Dahinter blieb an der Tür noch ein bisschen Platz. Schließlich lud er den Rest der Fracht noch in den Lieferwagen - eine Teppichreinigungsmaschine, Schläuche und eine Segeltuchplane.
Dann warf er die Hecktür zu. Darauf stand von außen zu lesen: »Capitol City-Teppichreinigung.«
Er öffnete die Fahrertür und schwang sich hinter das Steuer. Anschließend ließ er den Motor an und drehte sich herum, um die Fracht noch einmal zu überprüfen.
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