Die Entlarvung
Zögernd begann sie zu lesen.
»Meine über alles geliebte Tochter! Du mußt jetzt sehr stark sein, denn es ist etwas Schlimmes geschehen. Du erinnerst Dich vielleicht an einen Mann namens Joe Patrick. Er hat gelegentlich für mich gearbeitet und ist ein paarmal zu uns nach Hause gekommen. Er hat mir Probleme vom Hals geschafft. Menschen in meiner Position brauchen Leute wie ihn. Nun aber ist er verhaftet und des Mordes angeklagt worden. Ich habe es im Radio gehört und gerade auch einen Bericht in den Nachrichten gesehen. Er sollte einen heiklen Job für mich erledigen, hat aber alles vermasselt. Er wird mich anschwärzen, keine Frage. Aber ich trete vor kein Gericht, lasse mich nicht in den Dreck ziehen. Du kannst Dir vorstellen, wie sich meine Feinde freuen würden. Es gibt so viele Menschen, die mich am Boden sehen möchten. Die Genugtuung werde ich ihnen jedoch nicht verschaffen. Ich denke dabei nicht nur an mich, sondern auch an Dich. Ich weiß, daß Du mich verstehen wirst.
Wenn ich diesen Brief beendet habe, werde ich gehen und nicht wiederkommen. Ich habe alles geregelt. Dir und Deiner Mutter wird es an nichts fehlen. Auch mit Leo Derwent habe ich gesprochen. Er wollte mich erpressen – mit Fotos, die er von Euch beiden aufgenommen hat. Du weißt also, was Du von ihm zu halten hast. Sei auf der Hut. Ich hinterlasse Dir viel Macht, viel Geld. Gehe damit um, wie ich es getan hätte. Du bist ein Teil von mir – durch Dich werde ich weiterleben.
Achte darauf, daß dieser Brief nicht in falsche Hände gerät. Verbrenne ihn, sobald Du ihn gelesen hast. Denke immer daran: Du bist meine Tochter, und ich bin Dein Dich über alles liebender Vater – für immer.«
Gloria kniete neben dem Kamin nieder. Sie stocherte in der Glut herum, bis sie eine kleine Flamme entfacht hatte. Sie hielt den Brief hinein und sah zu, wie das Papier aufflackerte, sekundenlang lichterloh brannte und dann verkohlt in die Asche fiel.
Sie blieb zusammengekauert vor dem Kamin hocken. Sie konnte sich nicht bewegen, hatte keine Tränen. Die Welt schien stillzustehen. Er war gegangen und würde nicht wiedergekommen. Kälte kroch in ihr hoch, ihre Glieder wurden taub. Sie fühlte sich wie tot.
Reglos verharrte sie am Boden, bis sie die Türglocke hörte. Männliche Stimmen wurden laut, dann der Aufschrei ihrer Mutter. Langsam richtete sie sich auf, strich ihr Kleid glatt und ging hinaus, um die Sache in die Hand zu nehmen.
Sie brachte ihre aufgelöste Mutter ins Bett und schickte nach Doktor Halperin, der Marilyn eine Spritze gab. Sie sprach mit den Polizisten, die sich sehr taktvoll und zuvorkommend benahmen. Harold Kings Wagen war völlig zerbeult an der Straße, die ins Tal führte, aufgefunden worden. Er war frontal gegen einen Baum gerast. Er mußte auf der Stelle tot gewesen sein. Die Beamten wunderten sich insgeheim, wie ungewöhnlich ruhig und gefaßt Gloria auftrat. Sie vergoß nicht eine Träne, sondern starrte sie mit ihren blaßen Augen an und nickte. »Er muß einen Herzanfall erlitten haben.« Niemand wagte es, ihr zu widersprechen.
Natürlich würde es eine Untersuchung geben. Aber die Schweizer Behörden würden dafür sorgen, daß die Prozedur möglichst schnell und diskret über die Bühne ging. Gloria dankte den Beamten und beendete das Gespräch, indem sie aufstand und sie zur Tür geleitete. Dann rief sie das Personal zusammen. Angeführt von der Haushälterin, einer resoluten Frau, die seit zehn Jahren für die Familie arbeitete, versammelten sich die Leute um Gloria.
Sie blickte in lauter bleiche, erschrockene Gesichter. Unter Kings strenger Führung hatten sich die Angestellten sicher gefühlt. Jetzt wirkten sie hilflos und verstört.
»Sie haben alle gehört, daß mein Vater heute nacht nach einem Autounfall verstorben ist«, begann Gloria. »Wenn das bekannt wird, müssen wir mit einem Ansturm von Reportern und Journalisten rechnen. Diese Leute sind auf eine Sensationsgeschichte aus, sie werden versuchen, meinen Vater in den Schmutz zu ziehen. Sollte jemand von Ihnen oder von Ihren Familienangehörigen auch nur ein Wort über die Angelegenheit verlieren, muß er mit fristloser Entlassung ohne Referenz rechnen. Außerdem würde ich dafür sorgen, daß die betreffende Person nie wieder eine Arbeitsstelle in Gstaad findet. Meine Mutter steht unter Schock. Sie benötigt absolute Ruhe. Ich nehme keinerlei Gespräche an und empfange keine Besucher. Niemand darf hereingelassen werden, Ausnahmen gibt es nicht.
Weitere Kostenlose Bücher