Die Entlarvung
liebe dich.«
Er hob ihr Gesicht zu sich empor und küßte sie auf die Stirn. Er schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Sie hatte nie zuvor soviel Angst gehabt. Nicht vor ihm, sondern um ihn. »Ich werde dich nichts fragen«, versprach sie. »Aber komm mit mir mit. Du mußt dich hinsetzen … wie schlecht du aussiehst. Du brauchst einen Arzt, du bist krank.«
Er ließ sich von ihr in sein Arbeitszimmer führen, wo sie ihm half, den schweren Mantel abzulegen. Kraftlos sank er in seinen Sessel.
»Ich rufe Doktor Halperin«, sagte Gloria und ging zum Telefon. Er mußte einen Herzanfall erlitten haben. Sie konnte sich seinen Zustand nicht anders erklären. Diese rote, beinahe schon ins Lila gehende Hautverfärbung, das mühsame Atmen …
»Nein!« Gloria fuhr erschrocken zusammen. »Nein!« brüllte King erneut. »Ich brauche keinen Arzt. Laß das!« Sie stellte das Telefon zurück auf seinen Platz. Langsam beruhigte er sich wieder. »Gloria, verzeih! Ich wollte dich nicht so anschreien. Ich bin nicht krank, bitte glaub mir. Bring mir einfach nur ein wenig Wasser, ja?«
Sie öffnete das Barfach, in dem ein ganzes Sortiment an alkoholfreien Getränken aufbewahrt wurde. Mit zitternder Hand goß sie ihrem Vater ein Glas Perrierwasser ein.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Daddy? Möchtest du nichts essen? Es ist schon so spät …« An Leo Derwent verschwendete sie keinen Gedanken mehr. Nur ihr Vater zählte jetzt, er war wichtiger als alles andere.
»Nein, nichts«, stieß er mühsam hervor. »Kein Essen. Mach dir keine Sorgen um mich, mein Dummerchen. Mir geht es gut. Du weißt doch, ich bin nie krank. Würdest du mir die Nachrichten einschalten und mich dann für eine Weile allein lassen? Ich brauche etwas Ruhe. Später rufe ich dich dann. Gib mir noch einen Kuß. Ich bin sehr stolz auf dich, vergiß das nicht. Jetzt geh und mach dir keine Gedanken um mich …«
Gehorsam befolgte Gloria seine Anordnungen. Sie schaltete den Fernseher ein, reichte ihm die Fernbedienung und küßte ihn auf die Wange. Dann verließ sie leise den Raum. Ihre Mutter fing sie im Flur ab. »Ist er zurück? Wie war es? Worüber haben sie gesprochen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Gloria knapp. »Ihm scheint es nicht sonderlich gut zu gehen, aber er will nicht, daß ich Doktor Halperin rufe. Außerdem möchte er im Moment nicht gestört werden. Geh also nicht hinein. Laß ihn in Ruhe.«
Marilyn zuckte mit den Schultern. »Kein Grund zu schreien. Ich kenne seine Launen besser als jeder andere. Ich habe Monique gesagt, daß sie das Abendessen auftragen soll. Wir können sie nicht die ganze Nacht warten lassen. Ich nehme an, er ißt nicht mit?«
»Nein«, zischte Gloria. »Ihm ist nicht danach.«
Sie drehte sich noch einmal um und starrte auf die Tür, hinter der ihr Vater saß. Undeutlich vernahm sie die Stimme des Nachrichtensprechers. Immer, wenn Gloria unter Anspannung stand, hatte sie besonderen Appetit. Sie verzehrte eine Riesenportion Kartoffeln, zwei Omeletts und dazu frische Brötchen, dick mit Butter bestrichen. Ihre Mutter beobachtete sie eine Weile und wies sie schließlich zurecht: »Schling doch nicht so! Wie kann man nur so gierig sein?« Als Gloria nicht antwortete, fügte sie boshaft hinzu: »Vielleicht hat er sich mit deinem Leo gestritten? Du solltest besser noch einmal nach ihm sehen.«
»Er ruft mich, wenn er mich braucht. Warum gehst du nicht? Du kümmerst dich nie um ihn. Immer denkst du nur an dich selbst.«
Marilyn zog es vor, diese Bemerkung zu überhören. »Zum Nachtisch nehme ich frisches Obst. Monique, bringen Sie mir ein paar Weintrauben … und Nektarinen. Sie sind doch schon reif, nicht wahr? Gut. Was möchtest du, Gloria? Schokoladentorte, Eis …?«
»Ich hasse dich, Mutter«, stieß Gloria aus, nachdem das Hausmädchen das Zimmer verlassen hatte.
»Ich weiß«, erwiderte Marilyn leidenschaftslos. »Ich weiß, daß du so fühlst, aber bisher hast du es mir nie offen ins Gesicht gesagt. Wieso gerade heute?«
»Ich muß nach meinem Vater sehen.« Gloria erhob sich und kehrte ihrer Mutter den Rücken zu. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen. Der Raum war leer, das Kaminfeuer beinahe heruntergebrannt. Auf dem Fernseher – dort, wo sie ihn nicht übersehen konnte – lag ein Umschlag, der ihren Namen trug.
Sie spürte Panik in sich aufsteigen, als sie den Brief ihres Vaters öffnete. Er hatte eine ganze Seite mit seiner schönen, diesmal leicht zittrigen Handschrift gefüllt.
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