Die Entlarvung
Kontrolle verloren. Aber die Vision, selbst ein Gott zu sein, nahm ihm alle Angst. Er würde die Winzlinge mit einem einzigen Faustschlag zerschmettern. Er stellte den Motor ab und brachte seinen Sitz in Liegestellung. Wilde Gedanken, unzusammenhängende Bilder geisterten durch seinen Kopf, während er mit geschlossenen Augen dalag. An Schlaf war nicht zu denken. Aber ausruhen würde er sich, bis sein Körper mit dem Alkohol fertig geworden war. Er schaltete das Radio ein. Dröhnende Popmusik erklang, eine Beleidigung für seine Ohren. Er drückte so lange auf verschiedenen Knöpfen herum, bis er per Zufall den BBC World Service fand. Das war schon besser. Wichtige Nachrichten, Ereignisse – seine Welt, sein Metier. Was hatte er mit diesem alten Krieg zu schaffen, für den sich längst niemand mehr interessierte? Er war unverwundbar, kein Gesetz der Welt konnte ihm etwas anhaben. Seine Immunität hing mit seiner außerordentlichen Position zusammen. Er würde noch sehr viel leisten, sehr viel erreichen …
Er ließ das Fenster einen Spalt herunter. Etwas kalte Luft konnte nichts schaden. Dann lehnte er sich zurück, lauschte auf die Sendung und wartete.
Julia ging sofort auf ihr Zimmer. Sie legte das Aufnahmegerät auf den Tisch. Die Stimmen waren klar zu verstehen. Sie hörte sich selbst die entscheidenden Sätze sprechen. Erstaunlich, wie ruhig sie klang, wie gelassen. Dabei hatte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen.
»Was haben Sie da draußen in der Wüste verbrochen, daß Sie all die Jahre ein solches Geheimnis daraus machen mußten?« King hatte es ihr erzählt. Erst leise, dann immer lauter, immer unflätiger und ausfallender … Am Ende hatte Julia sich wie betäubt gefühlt.
»Wir sind auf Patrouille gewesen – mit Panzerwagen. Unterwegs haben wir einen unserer Männer aufgelesen. Er war gefangengenommen und wieder freigelassen worden …« Hier hatte sie ihn unterbrochen. »Was soll das heißen? Sie waren es doch, der in Gefangenschaft geraten war.« Empört hatte er dies von sich gewiesen. »Ich? Nein, ich hätte mich nie ergeben. Ich war deutscher Soldat, ich hätte mir vom Feind nicht ans Hemd pinkeln lassen. Besagter Mann war eigentlich noch ein Junge … er hatte eine Beinverletzung davongetragen und war unbewaffnet … Ich mochte ihn nicht, weil er feige die Hände hochgehoben hat, anstatt sich zu wehren. Er hat uns gesagt, wo die Briten zu finden waren. Und wir haben sie gefunden – zwei Offiziere, einen Feldwebel, vier Soldaten. Sie haben nicht einmal gekämpft, die Weichlinge. Die Offiziere sind mit einem Lastwagen abtransportiert worden, die anderen mußten sich in einer Reihe aufstellen. Vor ihren Augen habe ich mir den Jungen vorgeknöpft, habe ihm eine ordentliche Abreibung verpaßt. Er war eine Schande für das Afrikakorps. Ich bin nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen. Niemand hat versucht, mich aufzuhalten. Sie hatten alle Angst oder haben weggeguckt. Ich war so wütend auf den Burschen … Bis er mir plötzlich davon erzählt hat. Davon, daß er umgebracht werden sollte. Er verstand etwas Englisch und hatte gehört, was die Briten untereinander besprochen hatten. Er sollte mit einem Bajonett abgestochen werden. Wie ein Schwein.« Die aggressive Stimme erfüllte das Zimmer. Julia hatte das Gefühl, als stünde King direkt neben ihr. Dann sprach wieder sie selbst, immer noch so trügerisch ruhig. »Wie ging es weiter, Mr. King?«
»Ich habe den Jungen sofort in Ruhe gelassen und aufgehört, ihn zu schlagen. Allerdings nicht, ohne ihn noch einmal daran zu erinnern, was es heißt, ein deutscher Soldat zu sein. Dann habe ich ihm versprochen, mich der Sache anzunehmen und den Briten eine Lektion zu erteilen. Ich erinnere mich noch, wie unerträglich heiß es gewesen ist. Vom vielen Schwitzen hatte ich Ekzeme unter den Achseln, unter den Hoden. Der Juckreiz hat mich ganz verrückt gemacht. Wir hatten eine Flasche Brandy, die rundgegangen ist. Einer unserer Männer hatte sie einem toten Offizier abgenommen. Wir sind dann in unserem Wagen vorausgefahren. Die britischen Soldaten mußten in Reih und Glied hinter uns hermarschieren, eine Maschinenpistole war die ganze Zeit auf sie gerichtet. Ihr Feldwebel hat sie angeführt. Sie wissen, um wen es sich handelt, nicht wahr? Ihre Reise nach Jersey hat es ans Licht gebracht. Der edle Lord Western, Hüter der öffentlichen Moral, ein unbescholtener Bürger …« Kings häßliches Lachen dröhnte in Julias Ohren. »Sie haben Watsons
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