Die Entlarvung
Kollegen ging. Aber nach einem Telefonat mit der Sekretärin bestand kein Zweifel mehr daran, daß die Einladung echt war. Sie sollte zum Abendessen nach Hampshire kommen, im Haus der Westerns übernachten und am nächsten Tag nach dem Frühstück wieder abreisen. Schwarze Abendgarderobe, hatte die resolute Stimme am Telefon verlangt.
Sie, die Sekretärin, würde ihr eine Wegbeschreibung schicken. Sie, Julia, sollte sich mit ihrer Antwort an Lady Western persönlich wenden. Julia hätte beinahe einen Rückzieher gemacht. Ihr Vater war ein Rechtsanwalt vom Lande, sie stammte aus der Mittelschicht. Adelige, die in herrschaftlichen Gutshäusern residierten und Abendeinladungen inklusive Übernachtung mit Frühstück verschickten, gehörten nicht zu ihrem Erfahrungsbereich. Sie hatte fünf Jahre lang für kleine Provinzblätter gearbeitet und war untertariflich bezahlt worden, bis sie als Junior-Reporterin bei der Yorkshire Post hatte anfangen dürfen. Wenn ihr Chef seine Belegschaft einlud, mietete er einen Raum in der Kneipe am Ort.
Zunächst war sie recht eingeschüchtert gewesen; ihr alter Renault war ihr besonders schäbig vorgekommen, als sie mit ihm in die geschwungene Zufahrt zu Lord Westerns Anwesen eingebogen war und schließlich vor dem Hauptportal von Hollowood Park angehalten hatte. Ein Butler nahm ihre Koffer. Sie stieg hinter ihm die Stufen hinauf und folgte ihm in die Eingangshalle.
Eine Frau kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Julia würde diese erste Begegnung mit Evelyn Western nie vergessen. Sie war ungewöhnlich schön mit ihrem weißen Haar und dem zarten Gesicht, dem man das Alter kaum ansah.
Sie gab Julia die Hand und lächelte zu ihr herunter; sie war über einen Meter achtzig groß und hielt sich aufrecht und gerade.
»Miss Hamilton – wie schön, daß Sie kommen konnten. Ich bin Evelyn Western. Hätten Sie vielleicht gerne einen Drink, bevor Sie nach oben gehen, um sich frisch zu machen?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Natürlich würden Sie, nach so einer langen Fahrt. Kommen Sie. Sie sind übrigens die erste, die angekommen ist. Ich bewundere Menschen, die pünktlich sind. Ich selbst bin in dieser Hinsicht ein hoffnungsloser Fall.«
Flüchtig nahm Julia die Gemälde und die eleganten Möbel in dem großen, holzgetäfelten Raum wahr. Sie war zu aufgeregt, um ihre Umgebung genauer betrachten zu können.
Sie ließ sich ein Glas Sherry geben, den sie eigentlich gar nicht mochte. Evelyn Western setzte sich neben sie.
»Sie sind noch sehr jung«, stellte sie fest. »Sechsundzwanzig?«
»Siebenundzwanzig«, korrigierte Julia.
»Mein Mann hat eine Vorliebe für junge Talente. Er hat Sie schon seit einer Weile beobachtet, wußten Sie das?«
»Nein. Ich weiß lediglich von diesem Brief, in dem eine Stelle beim Herald erwähnt wird. Ich kann es immer noch kaum glauben. Das Ganze ist wie ein Traum, der plötzlich wahr wird.«
»Wie nett von Ihnen, so etwas zu sagen«, bemerkte ihre Gesprächspartnerin. »Ich werde William davon erzählen. Er liest die guten Regionalzeitungen, weil er immer auf der Suche ist nach neuen Leuten mit frischen Ideen. Sie hat er recht früh entdeckt. Ich weiß noch, wie er eines Morgens zu mir gesagt hat: ›Sieh dir diese junge Frau an, Evie – Julia Hamilton! Sie ist bei der Yorkshire Post. Mir gefallt, was sie schreibt. Vielleicht arbeitet sie eines Tages für uns.‹« Julia wußte nicht, was sie erwidern sollte. Sie nippte an ihrem Sherry. Nach einer kurzen Pause sagte Evelyn Western: »Ich erzähle Ihnen dies, damit Sie sich von meinem Mann nicht einschüchtern lassen, wenn Sie mit ihm zusammentreffen. Er wird Ihnen gehörig auf den Zahn fühlen, um zu sehen, aus welchem Holz Sie geschnitzt sind. Aber wenn Sie sich nichts von ihm gefallen lassen, wird schon alles gutgehen. Er weiß, daß ich Ihnen dies sage. Ich mache das immer, wenn jemand zum ersten Mal hierher kommt. Einigen der jungen Männer hat das nicht gefallen, aber Sie nehmen es mir, glaube ich, nicht übel, nicht wahr?«
Julia sah sie an. Sie hatte tiefblaue Augen, die sie geschickt geschminkt hatte, um die Farbe zu betonen.
»Nein, überhaupt nicht, Lady Western. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Während der Fahrt hierher bin ich so nervös gewesen, daß ich an einer Stelle beinahe umgekehrt und nach Hause gefahren wäre. Aber ich werde nicht vergessen, was Sie mir gesagt haben. Nochmals vielen Dank.«
»Nichts zu danken. Jetzt sollten Sie vielleicht nach oben gehen und sich
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