Die Entlarvung
Amüsements. Leo ließ seinen Blick von Julias Gesicht abwärts gleiten und sagte mit gezierter Stimme: »Bin ich nicht ein Glückspilz? Leo Derwent mein Name. Ihr Glas ist leer – meines übrigens auch. Wir wollen sehen, ob wir die Aufmerksamkeit des bewundernswerten Crichton auf uns lenken können …«
Was für ein gräßlicher Geselle, dachte Julia. Mit seiner gezierten Sprechweise und seiner selbstverliebten Art.
Die Überheblichkeit war aber noch nicht alles. Unter der Maske der falschen Höflichkeit lauerte anscheinend eine Raubtiernatur, die Derwents fuchsähnlichem Gesicht alle Ehre machte. Während des Essens belegte er sie vollkommen mit Beschlag und prahlte mit seinen Erfolgen.
»Ich glaube wirklich«, unterbrach sie schließlich seinen Redeschwall, »daß ich auch ein paar Worte mit dem Herrn zu meiner Linken wechseln sollte – er hält mich bestimmt schon für sehr unhöflich. Aber es war so interessant mit Ihnen.«
Sie wandte sich ab und ließ einen verwirrten Derwent zurück, der nicht wußte, ob sie ihn soeben beleidigt hatte oder ob ihm einfach nur eine subtile Benimmregel entgangen war. Der Speisesaal war genauso prachtvoll eingerichtet wie der Salon. Der Tisch war mit wertvollem Silbergeschirr gedeckt, das Menü erlesen zusammengestellt. Nachdem der letzte Gang abgetragen worden war, erhob sich Evelyn Western von ihrem Stuhl. »Wir nehmen unseren Kaffee im Salon ein. Und Billy, kommt bitte bald nach, ja?« Nach einer Viertelstunde sagte sie zu Julia: »Ich sehe gar nicht ein, daß wir stundenlang auf die Herren warten. Warum sollen wir hier sitzen und Däumchen drehen, während sie sich ihren Port schmecken lassen? Aber da kommen sie ja, Gott sei Dank – setzen Sie sich zu William. Dort drüben auf das Sofa. Und denken Sie daran«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu, »lassen Sie sich nicht bange machen.« Für einen kurzen Augenblick legte sie ihre Hand auf Julias Arm. »Er mag Sie, ich spüre das.«
Er richtete seine schiefergrauen Augen auf sie. »Gutes Essen, nicht wahr?«
»Ausgezeichnet«, bestätigte Julia.
»Ich bin ein leidenschaftlicher Gourmet«, ließ er verlauten. »Essen ist eines der ganz besonderen Vergnügen im Leben. Ich hasse Frauen, die ständig auf Diät sind. Meine Frau hat da nie Probleme gehabt; sie ist immer schlank gewesen. Sie haben auch ganz gut zugelangt, wie ich gesehen habe.«
Julia holte tief Luft. Er gab sich wirklich alle Mühe, sie aus der Fassung zu bringen. Wenn sie sich jetzt ihre Verlegenheit anmerken ließ, würde er sie verachten.
»Ich war halb am Verhungern«, sagte sie. »Ich habe heute nichts zu Mittag gegessen.«
Zu ihrer Überraschung begann er zu lachen. »Ich auch nicht. Hatte keine Zeit. Sie haben sich anscheinend gut mit Leo verstanden. Wie finden Sie ihn?« Erneut wartete er ihre Antwort nicht ab. »Cleveres Kerlchen, hat sich hochgearbeitet. Bringt es vielleicht eines Tages noch zum Premierminister, aber das erlebe ich nicht mehr.«
»Ich hoffentlich auch nicht«, entgegnete Julia kühl. »Ich würde ihm kein neues Auto abkaufen, geschweige denn ein gebrauchtes.«
»Verstehe. Sie halten mit Ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Gut so. Und Sie haben recht. Er ist ein gerissener kleiner Gauner, der eines Tages bestimmt erwischt wird. Haben Sie schon einmal etwas über eine Person verfaßt?«
»Nein, nichts, das Sie veröffentlichen würden, Lord Western«, erwiderte sie. »Die Zeitungen, für die ich gearbeitet habe, wollten nette kleine Berichte über lokale Persönlichkeiten. Den Chef der Krankenhausverwaltung, zum Beispiel, oder über Ratsmitglied Bloggs, zu Hause im Kreise seiner Familie.«
»Nun, ich hätte es gerne, wenn Sie mir einen Artikel über Leo Derwent schreiben würden«, bestimmte Western. »Nicht zur Veröffentlichung – niemand verlangt, daß Sie rennen, bevor Sie laufen gelernt haben. Nein, ich möchte einfach nur sehen, wozu Sie eventuell in der Lage sein könnten. Schicken Sie mir den Artikel bis Mittwoch hinauf in mein Büro. Sie fangen bei Harris an. Er ist seit zehn Jahren Chefredakteur und ein sehr guter Mann. Neuen Leuten gegenüber ist er allerdings etwas mißgünstig. Und er wird Sie nicht sonderlich ernst nehmen. Frauen sind für ihn bestenfalls hübsche Modepüppchen. Also lächeln Sie freundlich, tun Sie, was er Ihnen sagt, und seien Sie geduldig. Sind Sie geduldig? Nicht, wenn man solche Haare hat, schätze ich. Aber was soll's. Sie müssen es lernen.«
»Ich werde mich bemühen«, versprach
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