Die Entmündigung (German Edition)
Journal. Er führte seine Bücher wie ein Kaufmann, um nicht von seinem guten Herzen getäuscht zu werden. Alles Elend des Viertels war aufgezeichnet und in einem Buche untergebracht, wo jeder Fall sein Konto hatte, wie bei einem Kaufmann mit verschiedenen Schuldnern. Wenn man wegen einer Familie oder über einen zu unterstützenden Menschen im Zweifel war, hatte der Richter die Register der Sicherheitspolizei zu seiner Verfügung. Lavienne, ein Dienstbote wie für seinen Herrn geschaffen, war sein Adjutant. Er löste die Pfandscheine des Leihhauses ein oder erneuerte sie und eilte an die gefährdetsten Orte, während sein Herr bei Gericht arbeitete. Von vier bis sieben Uhr morgens im Sommer, von sechs bis neun im Winter war dieser Saal voll von Frauen, Kindern, Bedürftigen, denen Popinot Audienz erteilte. Im Winter war hier durchaus kein Ofen erforderlich; die Menge war so eng aneinander gedrängt, daß die Luft warm wurde; Lavienne legte nur etwas Stroh auf den feuchten Fußboden. Die Bänke waren schließlich glatt wie poliertes Mahagoni; dann hatte die Mauer bis zu Menschenhöhe eine gewisse dunkle Farbe von den Lumpen und verbrauchten Kleidern dieser armen Menschen. Die Unglücklichen verehrten Popinot so sehr, daß, bevor die Tür geöffnet wurde, von all den frierenden Frauen, die sich an Kohlenbecken wärmten, den Männern, die sich in die Arme schlugen, um wärmer zu werden, niemand durch Lärm seinen Schlaf beunruhigte. Die Lumpensammler, die Leute, die nachts ihrem Beruf nachgingen, kannten die Wohnung und sahen oft das Arbeitszimmer des Richters zu ungewöhnlichen Stunden erleuchtet. Endlich sagten sich Diebe, wenn sie vorbeikamen: »Das ist sein Haus«, und schonten es. Der Morgen gehörte den Armen, der Tag den Verbrechern und der Abend seiner Arbeit als Richter.
Die geniale Beobachtungsgabe Popinots war also notwendigerweise ›bifrons‹: er ahnte die edlen Seiten des Elends, die verletzten vornehmen Empfindungen, die grundsätzlich guten Handlungen und die unbekannten Opfer, wie er im Grunde der Seele die leisesten Spuren des Verbrechens und die zarten Fäden des Delikts aufspürte, um über das Ganze zu entscheiden. Das väterliche Erbe Popinots betrug tausend Taler Rente. Seine Frau, eine Schwester des alten Herrn Bianchon, des Arztes in Sancerre, hatte ihm zweimal so viel als Mitgift zugebracht. Sie war vor fünf Jahren gestorben und hatte ihrem Manne ihr Vermögen hinterlassen. Da das Gehalt eines Hilfsrichters nicht erheblich und Popinot fest angestellter Richter erst seit vier Jahren war, so kann man sich den Grund für seine Sparsamkeit in allem auf seine Person und sein Leben Bezüglichen vorstellen, wenn man bedenkt, wie mäßig sein Einkommen und wie groß seine Sparsamkeit war. Ist im übrigen die Gleichgültigkeit in bezug auf die Kleidung, die bei Popinot den Mann mit besonderen Interessen verriet, nicht das unterscheidende Merkmal der tiefen Wissenschaftlichkeit, der leidenschaftlich gepflegten Kunst und des immer lebhaften Denkens? Um diese Skizze zu beenden, wird es genügen hinzuzufügen, daß Popinot zu der kleinen Zahl von Richtern am Seinetribunal gehörte, die den Orden der Ehrenlegion nicht erhalten hatten. Das war der Mann, den der Präsident der zweiten Kammer des Tribunals, der Popinot angehörte, als er vor zwei Jahren zu den Zivilrichtern übergetreten war, beauftragt hatte, ein Verhör mit dem Marquis d'Espard anzustellen und ihn auf die Klage seiner Frau für unmündig zu erklären.
Die Rue du Fouarre, in der ganz früh so viele Unglückliche herumwimmelten, wurde um neun Uhr still und nahm wieder ihr düsteres elendes Äußere an. Bianchon ließ daher sein Pferd ausgreifen, um seinen Onkel noch mitten in seiner Audienz anzutreffen. Er dachte nicht ohne ein Lächeln daran, in welchem merkwürdigen Gegensatz der Richter neben Madame d'Espard erscheinen würde; aber er versprach sich, ihn dazu zu bringen, so Toilette zu machen, daß er nicht lächerlich erschiene.
›Hat mein Onkel wenigstens einen neuen Anzug?‹ fragte sich Bianchon, als er in die Rue du Fouarre einbog, wo die Fenster des Sprechzimmers in fahlem Licht erglänzten. ›Ich glaube, ich tue gut, wenn ich mich darüber mit Lavienne verständige.‹
Beim Geräusch des Wagens kam ein Dutzend Arme erstaunt aus dem Eingang hervor und entblößten das Haupt, als man den Arzt erkannte; denn Bianchon, der die Kranken, die ihm der Richter empfahl, umsonst behandelte, war nicht weniger bekannt unter den Elenden,
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