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Die Entmündigung (German Edition)

Die Entmündigung (German Edition)

Titel: Die Entmündigung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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die hier zusammengepfercht standen, als er. Bianchon bemerkte seinen Onkel mitten im Sprechzimmer, dessen Bänke von Bedürftigen dicht besetzt waren, die Besonderheiten eines eigenartigen Kostüms aufwiesen, vor denen auch die weniger künstlerisch Veranlagten mitten auf der Straße stehenbleiben. Sicher hätte ein Zeichner, ein Rembrandt, wenn heute noch ein solcher existierte, hier eine seiner herrlichsten Vorlagen gefunden, wenn er dieses einfach und schweigend zur Schau gestellte Elend gesehen hätte. Hier zeigte das runzlige Gesicht eines ernsten Alten mit weißem Bart und dem Schädel eines Apostels ein vollständiges Bild Sankt Peters. Seine teilweise entblößte Brust ließ eine vorspringenden Muskeln sehen, das Anzeichen eines eisernen Willens, der ihm als Stütze gedient hatte, um ein ganzes Epos von Unglücksfällen auszuhalten. Dort gab eine junge Frau ihrem jüngsten Kinde die Brust, um es am Schreien zu hindern, während sie ein anderes, etwa fünfjähriges, zwischen den Knien hielt. Dieser Busen, dessen Weiße inmitten der Lumpen hervorstach, dieses Kind mit seinem durchsichtigen Fleisch und sein Bruder, dessen Benehmen auf einen künftigen Straßenjungen schließen ließ, boten ein rührendes Bild dar durch den reizvollen Gegensatz mit der langen Reihe der von Kälte geröteten Gesichter, in deren Mitte diese Familie sich zeigte. Weiter weg stand eine alte, bleiche, kalte Frau mit einem Antlitz revoltierender Armut, bereit, sich an einem Tage des Aufruhrs für alle frühere Not zu rächen. Da war auch noch ein junger, schwächlicher, fauler Arbeiter, dessen intelligentes Auge große Fähigkeiten verriet, die von vergeblich bekämpften Begierden unterdrückt waren, der über seine Leiden schwieg und fast am Sterben war, weil er keine Gelegenheit fand, zwischen den Querstäben des riesigen Fischteichs hindurchzuschlüpfen, in dem solche Unglückliche herumjagen, um einander zu verschlingen. Die Frauen waren in der Mehrzahl; ihre Männer, die ihrem Beruf nachgingen, hatten ihnen jedenfalls die Mühe überlassen, ihre häuslichen Sorgen mit der Geschicklichkeit zu vertreten, die charakteristisch ist für die Frau aus dem Volke, die fast immer Herrscherin in ihrer Höhle ist. Zerrissene Tücher konnte man auf allen Köpfen, Röcke mit Koträndern, Brusttücher in Fetzen, schmutzige und durchlöcherte Jacken auf allen Leibern sehen, aber überall glänzten die Augen wie ebensoviel lebendige Flammen. Eine schreckliche Versammlung, deren Anblick zuerst Ekel verursachte, der aber bald eine Art Angst erregte, sobald man bemerkt hatte, daß die Ergebung dieser Geister ganz von selbst im Kampfe um die Lebensbedürfnisse eine auf die Wohltätigkeit gegründete Spekulation war. Die beiden Kerzen, die das Sprechzimmer erleuchteten, flackerten in einer Art Nebel, der durch die übelriechende Atmosphäre dieses schlecht gelüfteten Raumes verursacht wurde.
    Der Richter war nicht die am wenigsten eigenartige Erscheinung inmitten dieser Versammlung. Auf dem Kopfe saß ihm eine Mütze von ins Rote schimmerndem Wollstoff. Da er keine Krawatte trug, so hob sich sein von der Kälte geröteter, runzliger Hals scharf über dem abgeschabten Kragen seines alten Schlafrocks ab. Sein Gesicht zeigte den halb stumpfsinnigen Ausdruck, den eine ausgesprochene Vorliebe aufprägt. Sein Mund war, wie bei allen Arbeitenden, zusammengekniffen wie eine Börse, deren Schnüre zusammengezogen sind. Seine gerunzelte Stirn schien die Last aller Bekenntnisse, die ihm gemacht waren, zu tragen: er spürte nach, analysierte und gab sein Urteil ab. Argwöhnisch, wie ein Darlehnsgeber auf kurze Frist, verließen seine Augen seine Bücher und Aufzeichnungen nur, um bis ins Innerste der Individuen zu dringen, mit der Schnelligkeit der Vision, wie sie mißtrauischen Geizhälsen eigen ist. Hinter seinem Herren stehend, bereit, seine Befehle auszuführen, übte Lavienne jedenfalls die Polizei aus und empfing die neu Angekommenen damit, daß er sie gegen ihre eigene Schande scharfmachte. Als der Arzt erschien, entstand eine Bewegung auf den Bänken. Lavienne wandte den Kopf um und war äußerst erstaunt, Bianchon zu sehen.
    »Ah, du bist da, mein Junge«, sagte Popinot und reckte die Arme. »Was führt dich denn um diese Stunde her?«
    »Ich befürchtete, Sie könnten heute einen gewissen richterlichen Besuch machen, über den ich mich mit Ihnen unterhalten möchte.«
    »Nun,« sagte der Richter und wandte sich an eine dicke kleine Frau, die neben ihm

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