Die Entscheidung
Entferntesten klar gewesen, wie anstrengend diese Arbeit sein würde. Sie trat in den Flur und stellte ihre schwarze Handtasche und eine Reisetasche auf die Bank zu ihrer Rechten. Als sie ihren Mantel in den Schrank hängte, sah sie eine Jacke von Mitch auf dem Treppengeländer und hängte sie ebenfalls auf.
Anna lächelte, während sie die Treppe hinaufging. Mitch hatte eben sehr lange allein gelebt. Als sie ins Schlafzimmer kam, stellte sie die Reisetasche ab und begann ihre blaue Bluse aufzuknöpfen. Sie ging zur Balkontür hinüber, von wo man auf die Chesapeake Bay hinausblickte, und seufzte. Anna glaubte nicht, dass sie sich jemals an der Aussicht satt sehen würde. Sie liebte dieses Häuschen, das so viel über den Mann aussagte, der hier lebte – den Mann, in den sie sich verliebt hatte und mit dem sie so gerne ihr ganzes Leben verbringen würde. Anna Rielly zog sich bis auf die Unterwäsche aus und befreite sich auch noch von dem BH. Sie hoffte, dass sie keinen mehr würde anziehen müssen, bis sie am Montagmorgen wieder zur Arbeit ging.
Sie blickte auf die Bucht hinunter und erfreute sich an dem sanften Licht des ausklingenden Tages, ehe sie sich in dem Spiegel zu ihrer Rechten betrachtete. Sie war dreißig Jahre alt und fand, dass ihr Körper besser in Schuss war als zu der Zeit, als sie im Volleyball-Team der University of Michigan gespielt hatte. Anna wusste genau, worauf das zurückzuführen war: erstens auf eine strenge Diät, in der für Fastfood kein Platz war, zweitens auf die drei oder vier Workouts, die sie sich jede Woche verordnete, und drittens auf die Tatsache, dass sie die Gene ihrer Mutter geerbt hatte.
Anna legte die Hände an die Taille und streckte den Bauch so weit wie möglich vor; ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich vorstellte, wie es wäre, schwanger zu sein. Ihre beste Freundin würde in vier Monaten ein Kind zur Welt bringen, und Anna rief sie täglich an, um auf dem Laufenden zu bleiben. Mitch hatte ihr mehr als einmal ins Ohr geflüstert, wie sehr er sich ein Baby von ihr wünschte – und sie hatte stets geantwortet, dass seine Prioritäten nicht ganz stimmten: Heiraten kam für sie an erster Stelle und danach ein Baby.
Anna Rielly schlüpfte in ihre ältesten Jeans und streifte eines von Mitchs alten Sweatshirts über. Dann griff sie nach einem schwarzen Haarband, das auf dem Nachttisch lag, band ihr braunes Haar zu einem Pferdeschwanz und ging nach unten. In der Küche nahm sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte fest, dass sie ihr Buch oben vergessen hatte. Sie lief hinauf, um es zu holen, und ging dann hinaus auf die Veranda. Eine Weile stand sie am Geländer, blickte aufs Wasser hinaus und genoss das kalte Bier.
Schließlich ließ sie sich in einen der bequemen Adirondack-Stühle sinken, schlug die Beine übereinander und öffnete das Buch. Eine Kollegin hatte sie überredet, einem Lesekreis beizutreten, als sie nach Washington gekommen war. Damals hatte sie das für eine gute Idee gehalten. Nach den tragischen Ereignissen rund um das Weiße Haus war es ihr ein Bedürfnis, ihr Leben so normal wie möglich zu gestalten. Nachdem sie fünf Bücher gelesen hatte, war sie sich nicht sicher, ob sie noch einen Roman über irgendeine Frau ertragen konnte, deren Leben verpfuscht war, weil sie vom Vater nicht die Aufmerksam bekommen hatte, die sie verdiente. Im ersten Monat hatte ihr der Lesekreis noch richtig Spaß gemacht, im zweiten hatte sie es auch noch okay gefunden, im dritten ganz annehmbar, im vierten schon weit weniger erhebend und jetzt, im fünften Monat ihrer Mitgliedschaft, war sie sich sicher, dass das ihr letzter Versuch war. Die Gruppe traf sich am Montagabend, und Anna hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, um den Klappentext zu lesen. Sie trank einen Schluck Bier und begann zu lesen.
Fünf Minuten später beendete Anna das erste Kapitel und schloss das Buch. Die Autorin hatte bisher überaus anschaulich beschrieben, wie sie als Sechsjährige mit angesehen hatte, wie ihr Vater ihre Mutter so brutal verprügelte, dass es sie beinahe das Leben gekostet hätte. Nicht noch einmal, sagte sich Anna. Sie stand von dem Stuhl auf und beschloss, dass sie am Montagabend nicht zur Bücherrunde erscheinen würde. Anna kehrte ins Wohnzimmer zurück, stellte das Buch ins Regal und begann nach irgendeinem anderen Lesestoff zu suchen. Mitch las jede Woche ein Buch und hatte bereits eine umfangreiche Sammlung von Romanen und Sachbüchern beisammen. Nach
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