Die Entscheidung
dreiundvierzig Minuten mit ihrem Sohn verbracht hatte, übergab sie ihn an Heather, eine Teenagerin, die nebenan wohnte. Sie brauchte Heather nicht zu erklären, wo sie anrufen sollte, falls irgendetwas passierte, weil sie diese Dinge schon mindestens ein Dutzend Mal mit ihr durchgegangen war. Irene Kennedy schaltete die Alarmanlage ein und ging hinaus, um auf dem Rücksitz des Wagens Platz zu nehmen, an dessen Lenkrad der Mann saß, der für ihren Schutz zuständig war. Während der Fahrt zu Stansfield verspürte sie die üblichen Gewissensbisse. Irene hatte immer mehr das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Wenn sie nicht in ihrem Büro arbeitete, dann arbeitete sie zu Hause. Tommy verbrachte beängstigend viel Zeit vor dem Fernseher.
Sie hatte das Gefühl, dass ihr Job immer mehr Zeit in Anspruch nahm. Das Leben als allein erziehende Mutter war ohnehin schon schwer genug – aber mit ihrem Job war es praktisch undurchführbar. Sie machte ihrem Exmann jedoch keine Vorwürfe. Es war besser, dass sie sich getrennt hatten, als Tommy noch klein war. Der Mann war völlig aus ihrem Leben verschwunden. Wenigstens würde er seinen Sohn nicht genauso enttäuschen können, wie er sie einst enttäuscht hatte.
Irene Kennedy fühlte sich innerlich zerrissen zwischen der Verantwortung für ihren Sohn und der Verantwortung, die ihr Job mit sich brachte – ein Job, bei dem es immerhin um Menschenleben ging. Trotzdem hatte sie das dringende Gefühl, dass irgendetwas passieren musste. Wenn alles so weiterging wie bisher, würde sowohl die Beziehung zu ihrem Sohn als auch ihre Arbeit darunter leiden. Als der Wagen in die Zufahrt zu Stansfields Haus einbog, schob Irene Kennedy diese quälenden Gedanken beiseite. Sie musste sich jetzt zusammennehmen; das Letzte, was ihr Mentor jetzt gebrauchen konnte, war, dass er sich auch noch Sorgen um sie machen musste.
Der Wagen hielt vor der Garage an, und Irene Kennedy stieg aus. An der Haustür wurde sie von einem von Stansfields Bodyguards empfangen. Sie ging den Flur entlang und trat ins Arbeitszimmer, wo Thomas Stansfield in seinem Ledersessel saß, die Füße auf einen Polsterschemel gelegt und eine Wolldecke auf dem Schoß. Sie ging zu ihm und küsste ihn auf die Stirn. In Anbetracht der Umstände sah er eigentlich ganz gut aus.
Sie ließ die Hand auf seiner Schulter liegen. »Wie geht’s dir heute?«, erkundigte sie sich.
Irene wusste, dass es ihm nicht gut ging. Die Ärzte hatten ihr anvertraut, dass sein Krebsleiden sehr schmerzhaft sein musste. Aber das war typisch Thomas Stansfield. Er kannte kein Selbstmitleid, und er wollte auch kein Mitleid von anderen. Irene Kennedy lehnte sein Angebot, etwas zu trinken, ab und nahm auf dem Sofa ihm gegenüber Platz. »Der Abgeordnete Rudin will mich gleich morgen früh vor seinem Ausschuss haben.«
»Ich hab’s gehört.«
Sie fragte gar nicht erst, woher er es wusste. Sie hatte schon vor Jahren aufgehört, sich zu wundern, woher er diese oder jene Information haben mochte. »Was hast du sonst noch gehört?«
»Er will wissen, ob wir in Deutschland waren, und wenn ja, ob wir bei der Hagenmüller-Sache unsere Hände im Spiel hatten.«
»Und wie soll ich deiner Ansicht nach antworten?«
»Sehr vorsichtig«, erwiderte der alte Mann.
»Das habe ich mir auch vorgenommen.«
»Davon bin ich überzeugt.« Stansfield überlegte eine Weile, ehe er fortfuhr. »Du musst ihm sagen, dass wir den Grafen und seine Firma unter Beobachtung hatten. Argumentiere so, wie es der Präsident gestern gegenüber dem deutschen Botschafter getan hat. Rudin mag uns ja hassen – aber wir haben trotzdem genug Verbündete im Ausschuss, die ihn bremsen werden. Wenn sie erfahren, was Hagenmüller vorhatte, dann wird kaum noch jemand die Sache weiter verfolgen wollen.«
Irene Kennedy war sich da nicht so sicher. »Vielleicht sollten wir uns an den Präsidenten wenden, damit er mit Rudin spricht? Rudin ist ein treuer Parteisoldat – er wird bestimmt tun, was Präsident Hayes von ihm verlangt.«
Stansfield schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will den Präsidenten da nicht hineinziehen. Wir kommen damit schon allein zurecht.«
Irene Kennedy stimmte ihm widerstrebend zu. »Ich fürchte, dass sich da irgendetwas hinter unserem Rücken abspielt«, sagte sie schließlich.
»Du meinst, was Rudin betrifft?«
»Nicht nur«, antwortete Irene und blickte aus dem Fenster. »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll … Da sind Dinge nach außen gedrungen – und ich
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