Die Entscheidung
anfing.
Der U-Bahn-Schacht war wie ausgestorben, anscheinend hielten sich die Leute an die Ausgangssperre, was bei dem aktuellen Militäraufgebot mehr als verständlich war. Als sie begriff, dass die Metro um diese Zeit ebenfalls nicht in Betrieb war, blieb sie stehen und fluchte. Statt über die Dächer zu fliehen, saßen sie jetzt wie Ratten in der Falle. Am liebsten hätte sie sich vor die Stirn geschlagen. Als sie kurz darauf das bekannte Whupp Whupp Whupp von Rotorblättern über sich hörte, überlegte sie es sich. Auf den Dächern wären sie den Suchscheinwerfern der Helikopter schutzlos ausgeliefert, hier unten konnten sie sich zumindest verstecken.
Sie, also Mehrzahl. Dass Andrej vor ihr herlief, ihre Hand fest im Griff, kam ihr wie ein Traum vor. Nachdem die ersten Kugeln über ihre Köpfe hinwegflogen, gab sie ihren Gedanken eine andere Richtung. Sie löste ihre Hand aus seiner und zog die beiden SIGs. Zusammen sprangen sie in den Schacht der Linie vier, der sie zum Gare de l’Est bringen würde. Kaum waren sie im Tunnel verschwunden, fielen weitere Schüsse. Rufe wurden laut und schwere Stiefel landeten im Schotter hinter ihnen. Sie roch verbrannten Stoff und das Brennen an ihrem Bein verriet ihr, dass sie einen Streifschuss am Oberschenkel abbekommen hatte. Den Griff um die SIGs verstärkend ignorierte sie den Schmerz und rannte die Schienen entlang, während der Lärm ihrer Verfolger zunahm. Strahlen von mindestens einem halben Dutzend Stabtaschenlampen erhellten den Gang hinter ihnen, doch die Dunkelheit der Unterführung schluckte das Licht, als wäre es eine Delikatesse.
Durch die diffuse Beleuchtung erkannte sie, dass selbst der Tunnel eine Nebelsuppe war, allerdings sah er hier unten wie Rauch aus. Während sie noch darüber nachgrübelte, lief sie gegen etwas Hartes. Sie wäre ausgerutscht und auf dem Rücken gelandet, doch eine Hand packte sie am Arm und gab ihr Halt. Andrej. Er öffnete eine Fluchttür, die wie ein Schott in die Tunnelwand eingelassen war. Auf der anderen Seite betraten sie eine Fußgängerröhre. Statt sich vom Acker zu machen, starrte Andrej die Metalltür an, als erwartete er, dass sie zu ihm reden würde. Als Nächstes hörte sie Schritte näherkommen – die Soldaten waren ihnen im Laufschritt gefolgt.
„Was soll das werden?“, fuhr sie ihn an, dann bemerkte sie, dass abermals Nebel aufgekommen war. Weißer Dunst legte sich wie eine Gummiisolierung um den Rahmen und fror im nächsten Moment zu einer dicken Eisschicht zusammen.
Ihr Mund klappte auf.
Also hatte Andrej tatsächlich eine Affinität zum Süden, was bedeutete, dass Wasser sein Element war. Dann stammte der Nebel von ihm. Gerade, als sie ihn fragen wollte, seit wann er ihr gefolgt war, griff er nach ihrer Hand und führte sie tiefer in den Fluchttunnel. Wasser tropfte von der Decke und rann die gewölbten Wände entlang. Es roch nach Schimmel und Verwesung. Letzteres ging vermutlich von verendeten Ratten aus.
Nachdem sie vor einer weiteren Metalltür landeten, erschütterte ohrenbetäubender Lärm die Tunnelwände. Blanche duckte sich und schützte ihre Augen mit beiden Händen. Wie es aussah, hatten ihre Verfolger soeben den Zugang gesprengt.
Nachdem sich Schutt und Staub gelegt hatten, stiegen sie durch die nächste Luke, die Andrej wie die erste verschloss. Erneut befanden sie sich in einem Metrotunnel, und wenn ihr Orientierungssinn nicht komplett Amok lief, waren sie wieder in der Linie vier. Der Tunnel war vor dreißig Metern Richtung Osten abgebogen, was bedeutete, dass der nächste Halt Réaumur Sébastopol war. Damit hätten sie fast die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Würde es oben nicht von Polizeihubschraubern wimmeln, hätte sie ihre Flucht überirdisch weitergeführt. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn als die die Station erreichten, begrüßte sie eine Bleisalve. Dem Klang nach handelte es sich um mehrere Smith & Wesson Kaliber .357 Magnum. Weder Militär noch Polizei benutzten Revolver, was bedeutete, dass das Empfangskomitee mafiöser Art war.
Unwillkürlich hoben sich ihre Mundwinkel. Das hier war schon eher ihr Ding als der Militärscheiß. Ohne nachzudenken, löste sie zwei Handgranaten aus ihrem Gürtel, zog die Ringe, wartete vier Sekunden, dann warf sie die Sprengkörper dem wartenden Publikum vor die Füße. Andrej zog sie auf die Gleise und warf sich schützend über sie, als die Detonation den Boden erbeben ließ.
Ihr Herz zog sich bei dieser Geste
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