Die Entscheidung
verwaisten Kasino. Was hatte er da zu suchen? Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete sie die Treppe hinauf. Es wurde Zeit für sie und ihren Freund, die Segel zu streichen.
Ihren Freund. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Zum Teufel, Andrej war weit mehr als das. Er war wie ein Bruder für sie, so wie Wayne ihr Vater gewesen war. Er gehörte praktisch zur Familie, doch in den vergangenen Tagen hatte sie kaum Zeit gehabt, an ihre alte Verbindung anzuknüpfen. Wer war Andrej wirklich, was trieb ihn an? Warum war er auf Miceals Angebot eingegangen, sie zu beschützen, was war für ihn dabei herausgesprungen?
Cam hatte behauptet, dass mit seinen gerade mal elf Jahren bereits Blut an seinen Fingern klebte. Wenn er sich beweisen musste, hätte Miceal aufgrund seines jungen Alters mit Sicherheit besondere Milde walten lassen, zumal Andrej vermutlich aus Notwehr gehandelt hatte. Er war ein Kind gewesen, genau wie sie. Dennoch hatte der Engel ihm diese schier monströse Aufgabe übertragen, und ihm nur die nötigste Hilfe zukommen lassen. Dieser geflügelte Bastard hatte ihm nicht mal verraten, wie man gegen Dämonen kämpfte. Misstraute er Andrej, oder warum hatte er ihn nicht tatkräftiger unterstützt? Sie übrigens auch nicht, denn sie war ja Andrejs Bewährungsprobe gewesen. Wie konnte der Engel sie der Straße überlassen, und nur ab und zu nach dem Rechten sehen?
Ein anderer Gedanke drängte sich in den Vordergrund und ließ sie mitten im Lauf innehalten.
Was, wenn Miceal sie verstecken musste? Wenn die Straße der sicherste Ort für sie gewesen war, weil ihre Feinde sie in einem Safehouse vermutet hätten, irgendwo in Sicherheit? Wäre es nicht aufgefallen, wenn er ihnen zu oft geholfen hätte?
Was, wenn Miceal schon lange gewusst hatte, dass Blanche Ithuriels Tochter war – oder es zumindest vermutete. Das Kind des verlorenen Engels, der in Saetans Krallen geraten, und von dem niemand wusste, was aus ihm geworden war. Abgesehen von Tchort. Er schien ein ziemlich klares Bild von Ithuriels Schicksal zu haben. Dass es ihm nicht schmeckte, war die Untertreibung des Jahres. Er hasste Saetan für das, was er dem Engel angetan hatte, und vermutlich war das der Grund für Miceal gewesen, dem Herrn des Ostens einen Ausweg anzubieten.
So betrachtet ergaben all die Dinge einen Sinn, auch wenn sie noch nicht wusste, wohin das Ganze führte. Miceals Interesse galt den Engeln, auch wenn er etwas anderes behauptete. Denn mal ehrlich, wenn es hart auf hart kam, war sich jeder selbst der Nächste. Blut war dicker als Wasser und so weiter, und Miceal konnte es nicht schnurzegal sein, was aus den Engeln wurde, die Saetan einsackte. Wie ihm das gelungen war, wollte sie lieber nicht wissen. Vermutlich hatte er ihre Liebe zu Tchort oder noch schlimmer, zu ihrer Tochter benutzt, sie in sein Reich zu ködern. Mittlerweile wusste sie, dass man die Hölle nicht verlassen konnte, es sei denn, auf ausdrücklichen Wunsch ihres Herren. Und ein Engel in der Hölle …
Blanche atmete tief durch. Es musste grauenhaft für ein Lichtwesen sein, der ewigen Finsternis ausgesetzt zu werden. Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung und beschloss, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Für ihre Mutter konnte sie im Moment nichts tun. In weniger als einer Stunde würden sie das Portal öffnen, um den Rest mussten sich die Erzdämonen kümmern.
Noch einmal überprüfte sie Andrejs Aufenthaltsort. Er steckte noch immer im Kasino, was trieb er dort bloß? Als sie es betrat, wurde sie von Dunkelheit begrüßt, die jedoch nicht unangenehm war. Schon immer hatte sie sich im Dunkeln wohlgefühlt, beschützt. Das schwache Glimmern der Notausgangsbeleuchtung hüllte den Saal ein in geisterhaftes Licht. Nachdem sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, machte sie Andrejs Silhouette auf einem Roulettetisch aus.
„Was treibst du hier“, fragte sie, während sie sich ihm näherte.
„Nachdenken.“
„Über?“
„Dich. Mich. Die Zukunft.“
Im Ernst? Jetzt? „Äh … ich störe ja nur ungern, aber es wird Zeit.“
„Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, was du vom Leben erwartest?“, fragte er, als hätte er ihre letzte Bemerkung nicht gehört.
„Meistens war ich zu sehr damit beschäftigt, zu überleben“, bemerkte sie, doch der Sarkasmus war an ihn verschwendet, denn er nickte zustimmend.
„Genau das meine ich. Ist dir mal aufgefallen, dass es für die wichtigen Dinge nie den richtigen Zeitpunkt gibt?“
„Überleben
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