Die Entscheidung
Normalsterblichen wären vermutlich die Synapsen durchgebrannt. Andrejs Geist dagegen hatte einen Teil aufgenommen, und alles andere wie Hintergrundrauschen ausgeblendet.
„Manche Sachen kommen stückweise, Gedankenfetzen, die ich nicht zuordnen kann. Manchmal ist es ein Wort, ein Geruch oder ein Geräusch.“
„Hast du eine Ahnung, wie sich die Meuterei der Engel auf unser Vorhaben auswirken wird?“
Wenn es tatsächlich eine Auseinandersetzung zwischen Zarkyel und Miceal gab, wäre ihnen der Erzengel keine Hilfe.
„Ich wünschte, ich wüsste es.“ Andrej hielt inne und schüttelte abermals den Kopf. „Ich bin voller Gefühle, Blanca. Es macht überhaupt keinen Unterschied, dass sie nicht zu mir gehören, sie fühlen sich real an. Und ich kann dir eines versichern.“ Er sprang vom Tisch und ergriff ihre Hand. „Dämonen sind durchaus zur Liebe fähig. Dein Vater hat deine Mutter abgöttisch geliebt. So sehr, dass es mich innerlich verbrennt.“ Seine Hand fuhr zum Solarplexus und er schloss für einen Moment die Augen. „Es brennt, als hätte ich glühende Kohlen verschluckt, aber es ist Liebe, daran besteht kein Zweifel.“ Als er die Augen öffnete, setzte er ein schiefes Lächeln auf und fuhr leiser fort: „Und er liebt dich, moj ciemny aniol .“
Sie schluckte einen Kloß hinunter und versuchte, Beliars wachsende Ungeduld zu ignorieren. „Wirst du das heute Nacht schaffen?“
„Für dich werde ich es versuchen, Blanca.“ Sie standen Stirn an Stirn im Kasino und umschlangen sich. Da war sie wieder, die alte Vertrautheit, und Blanche schöpfte Kraft daraus wie aus einem Brunnen.
„Blanche!“
Seufzend trat sie einen Schritt zurück. „Wenn das hier vorbei ist, werden wir reden, Andrej. Du und ich. Über dich, mich und die Zukunft.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
11
B eliar spürte Blanches Gefühlsaufruhr, und es gefiel ihm nicht. Auf der anderen Seite beobachtete er mit Interesse, wie sich seine Gefährtin mehr und mehr Emotionen öffnete, die sie vor Kurzem noch verdammt hatte. Sie wurde weicher, was ihm wiederum gefiel. Zweifellos war ihre Metamorphose der letzten Wochen bemerkenswert gewesen, gleichwohl ging damit eine Instabilität ihrer Persönlichkeit einher. Es lag in der Natur der Sache, dass sie all das Neue verunsicherte. Blanche vereinte eine große Portion Licht in sich, gleichzeitig konnte sie den dunklen Anteil nicht verleugnen. Beide Kräfte rangen um die Oberhand, und es war ihre Aufgabe, sie in Einklang zu bringen. Halbdämonen suchten nicht selten ihr Heil in der Flucht, was den sicheren Tod bedeutete. Aus diesem Grund überlebten viele von ihnen das zwanzigste Lebensjahr nicht. Bei Blanche war durch die mütterliche Linie die Melange aus Licht und Schatten sogar noch ausgeprägter, was sie umso fragiler machte.
Dieser Andrej war bisher keine große Hilfe gewesen, dennoch konnte er das Band zwischen den beiden nicht leugnen. Er war Teil ihrer Familie, etwas, wonach sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Ein Zuhause.
Und obwohl ihr das Leben wie ein riesiges schwarzes Loch vorkommen musste, lief alles auf einen Punkt zu, auf diese Nacht, die über ihre Zukunft entscheiden würde, und die Frage, ob es eine Zukunft geben würde.
Blanches und sein Schicksal war untrennbar miteinander verwoben. Ihre Vergangenheit hatte sie zu dem gemacht, die sie heute waren, und ohne die schmerzhaften Erfahrungen von Tod und Verlust wären sie nicht in der Lage, die Aufgabe zu lösen, der sie sich heute Nacht stellen mussten. Wenn ihn das vergangene Jahrtausend etwas gelehrt hatte, dann, dass alles einer bestimmten Ordnung folgte. Niemand kannte seine Bestimmung, bis sie sich ihm offenbarte. Und wenn sie es tat, war es Zeit, zu handeln.
Blanche hatte nicht gezögert, das war einer der Gründe, weshalb er sie liebte – ihre unerschrockene Entschlossenheit. Doch auch der stärkste Baum konnte unter der Wucht des Sturmes brechen. Er musste auf seine Gefährtin achtgeben, denn sie zu verlieren, kam nicht infrage.
Nachdem die zwei das Dach erreichten, nahm er Blanche in den Arm und sog ihren lieblichen Mirabellenduft ein, der zu seinem Lebenselixier geworden war. Sie zitterte leicht, was ihm einmal mehr ihre Zerbrechlichkeit vor Augen führte.
Er lehnte sich zurück und strich ihr eine schwarze Locke hinters Ohr, während er ihr Gesicht betrachtete. Unter all der Stärke war sie aufgewühlt. Was immer der Junge zu ihr gesagt hatte, war nicht spurlos an ihr
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