Die Entscheidung
»Ja, und du hast einen schlechten Start gehabt. Konntest nicht einmal dieser simplen Falle ausweichen. Wusstest nicht einmal, welches Spiel du spielst.«
»Was immer es ist, es ist das letzte Spiel«, entgegnete Jenny.
Etwas hatte sich verändert. Früher hatte sie das Gefühl gehabt, die ganze Zeit gegen ihn ankämpfen zu müssen – ob er nun körperlich zugegen war oder nicht. Sie hatte gegen seine Sinnlichkeit gekämpft, gegen seine Schönheit, gegen die Erinnerung an seine Berührung.
Früher hatte sich tatsächlich ein Teil von ihr nach dem Moment gesehnt, da sie aufhören würde zu kämpfen; danach gesehnt, sich endlich zu unterwerfen. Aber jetzt …
Jenny hatte sich verändert. Und das Feuer, durch das sie im letzten Spiel gegangen war, das Feuer, das er erschaffen hatte, um sie zu fangen, war dafür verantwortlich. Es hatte den Teil von ihr weggebrannt, der auf Julian reagiert hatte, der sich nach Gefahr und Wildheit
verzehrt hatte. Jenny war lebendig durch das Feuer gekommen – und gereinigt. Sie mochte zwar nicht so mächtig sein wie Julian, aber ihr Wille war genauso stark wie seiner.
Niemals wieder würde sie den Schatten nachgeben. Und das bedeutete, dass sich alles zwischen ihnen verändert hatte.
Sie merkte, dass er die Veränderung sehen konnte. »Mehr Licht?«, fragte er und zeichnete eine Linie in die Luft.
Kenaz, dachte Jenny. Die Rune der Fackel, eine der Runen, die sie auf die Eichentür ihres Großvaters geritzt hatte. Sie war geformt wie ein spitzer Winkel, wie das Kleiner-als-Zeichen in der Mathematik. Als Julian nun mit seinen langen Fingern diese Geste machte, schien das Licht sich zu kräuseln – und mit der schwungvollen Gebärde eines Zauberers pflückte er eine zweite brennende Fackel aus der Luft.
Jenny klatschte zwei- oder dreimal mit steinerner Miene in die Hände.
Julians Augen waren so blau wie eine Gasflamme. »Du willst mich doch wohl nicht schon jetzt wütend machen« , sagte er gefährlich leise.
»Ich dachte, ich sollte beeindruckt sein.«
Er musterte sie. »Du willst mich nicht wirklich wütend machen.«
Oh, natürlich war er zauberhaft. Unmenschlich, geheimnisvoll
und so lebendig, dass er aussah, als müssten aus seinen Fingern Funken von Feuer oder Strom sprühen. Er glitzerte wie Diamanten in der Dunkelheit. Aber Jenny hatte einen Kern aus Stahl.
»Wo ist Tom?«, fragte sie.
»Du hast nicht an ihn gedacht«, sagte Julian.
Es war die Wahrheit. Jenny hatte nicht an ihn gedacht. Nicht bewusst, nicht andauernd, so wie früher, als sie sich gar nicht mehr als eigenständige Person betrachtet hatte, sondern als Teil einer Einheit: Tom-und-Jenny. Aber das spielte keine Rolle.
»Ich bin seinetwegen hierhergekommen«, stellte sie klar. »Ich muss nicht jede Minute an ihn denken, um ihn zu lieben. Ich will ihn zurückhaben.«
»Dann gewinne dieses Spiel.« Julians Stimme war so kalt und unheilvoll wie dünnes, brechendes Eis.
Er steckte eine Fackel in einen breiten, waagrechten Riss in der Wand. Jenny hatte ihre Umgebung noch gar nicht richtig wahrgenommen – in Julians Gegenwart war es schwer, sich auf irgendetwas anderes als auf ihn zu konzentrieren. Aber jetzt sah sie, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte. Sie befand sich in einem geschlossenen, sehr kleinen Raum, nicht einmal so groß wie ihr Zimmer zu Hause. Drei der Wände waren aus Stein; die vierte bestand aus aufgetürmten Felsbrocken.
Unter dem Riss mit der Fackel war eine Art natürlicher Treppe, die von Stufe zu Stufe breiter wurde. Wie
beim Wasserfall in der Goldmine, dachte Jenny, nur ohne Wasser. Auf der untersten Stufe lag Jennys Taschenlampe, anscheinend kaputt.
Der Raum hatte weder einen Eingang noch einen Ausgang. Die Decke war niedrig. Er wirkte wie eine Falle.
Jennys Schultern sackten ein wenig herunter.
Nein. Lass bloß nicht zu, dass er dir Angst macht. Genau das ist es, was er will, das ist es, was ihm den Kick gibt, dachte sie.
Außerdem, wovor solltest du schon Angst haben? Du bist lebendig begraben unter Tonnen von Gestein, allein mit einem Dämonenprinzen, der deinen Körper und deine Seele will und buchstäblich alles tun wird, um dich zu bekommen. Der dich vielleicht töten wird, nur um dafür zu sorgen, dass kein anderer dich bekommt. Und du machst ihn auch noch mit voller Absicht wütend … Aber was soll’s, warum an Details aufhängen?
Sie versuchte, ihre Stimme ruhig und gleichgültig klingen zu lassen. »Also, wie genau läuft das Spiel diesmal
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