Die Entscheidung
Taschenlampe waren bereits weg, zusammen mit dem Wasserkanister. Dann rollte und schlitterte sie als Teil einer Steinlawine, die sie mühelos mit sich davontrug.
Plötzlich verebbte der Lärm. Das Chaos fand ein Ende. Und ihr Kopf wurde frei.
Sie war allein, in vollkommener Dunkelheit und absoluter Stille. Ihre Kehle war voller Staub. Sie würgte. Und sie hatte Angst.
Das wusste sie, noch bevor sie sich daran erinnerte,
wer sie war oder wie sie dort hingekommen war. Sie fühlte sich, als wäre sie gerade auf eine dieser schrecklichen Arten erwacht – wie früher, wenn sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gefahren war, weil sie gewusst hatte, dass etwas Schlimmes in der Dunkelheit lauerte. Und sie hatte auch gewusst, dass sie bei Tag alles wieder vergessen würde.
Aber das hier war kein Traum. Hier gab es keine Nachttischlampe, die sie einschalten konnte, hier waren keine Eltern, zu denen sie laufen konnte. Nur Dunkelheit und das Geräusch ihres eigenen Atems.
»Dee!« Ein jämmerlich schwacher Ruf. Und ohne richtiges Echo. Jenny drehte den Kopf, konnte aber nicht den leisesten Luftstrom spüren.
Sie war in einem geschlossenen Raum. Das Gestein musste den Eingang blockiert haben, durch den sie gefallen war.
»Dee! Audrey!« Oh, noch jämmerlicher. Ihre Stimme erstarb vollkommen, als sie versuchte, Michael zu rufen.
Dann saß sie völlig reglos da und lauschte.
Wenn ich mich nicht bewege, wird es mich nicht kriegen.
Das war natürlich lächerlich. Es funktionierte nur bei den Monstern unterm Bett. Ihre Muskeln waren so verkrampft, dass sie vor Anspannung zitterten.
Sie hörte nicht das leiseste Geräusch. Nicht einmal ein schwaches Nachbeben von dem Einsturz. Dunkelheit umhüllte sie.
Sie spürte, dass sie in Panik geriet.
Oh, bitte, nein … bleib ganz ruhig, denk an irgendetwas … Aber sie hatte Angst. Es musste einen Ausweg geben … sie musste versuchen, diesen Ort zu erkunden.
Aber sie konnte nicht. Sie konnte sich nicht bewegen. Es war zu dunkel. Sie spürte, wie ihre Augen sich immer mehr weiteten, nutzlos wie die blinden Beulen des weißen augenlosen Höhlenfischs.
Alles Mögliche konnte auf sie zukommen – aus jeder Richtung …
Panische Angst erfüllte Jenny. Angst vor einem Geräusch, das sich ihr in der Schwärze näherte.
Aber ich bin allein gefallen. Ich bin in einem kleinen Raum; ich kann es spüren. Ich bin allein. Nichts ist hier bei mir. Nichts kann hereinkommen. Nichts …
Da, ein leichtes Kratzen, Stein über Stein.
Jenny drehte sich, verängstigt kauernd, in Richtung des Geräuschs um. Doch das schwache Geräusch wurde übertönt von ihrem Herzen, das so heftig wie ein Hammerwerk schlug, und von dem puren Entsetzen, das ihr in den Ohren schrillte.
Oh Gott …
»Ragnarok«, erklang eine melodische Stimme, »bedeutet sowohl Staubregen als auch das Ende der Welt. Für die Leute, die die Runen entdeckt haben, meine ich. Findest du nicht auch, dass das sehr interessant ist?«
»Julian …« Jenny fühlte sich, als fiele sie erneut in ein großes schwarzes Loch.
Dann fragte sie scharf: »Wo bist du?«
»Hier.« Ein rotes Licht leuchtete auf. Während ihre Augen sich anpassten, versuchte Jenny, sich zu wappnen. Aber gegen Julian konnte sie sich niemals wappnen – er war wie eh und je ein Schock für ihre Sinne.
Ein wunderschöner Schock, wie ein vollkommen unerwarteter Riff in einem langweiligen Jazzstück. Wie ein Bild, das man stundenlang betrachten konnte, um immer wieder neue, verblüffende Einzelheiten zu entdecken. Alles an ihm war so perfekt, so absolut unglaublich, dass Jennys Blick benommen und verwirrt von Detail zu Detail huschte.
Jetzt glitzerte das rote Licht auf seinem Haar wie Feuer auf Schnee. Es verlieh seinen unfassbar blauen Augen eine ebenso unfassbare Violettschattierung. Es warf tanzende Schatten über sein Gesicht und hob die gemeißelte Schönheit seiner Oberlippe hervor. Und es hüllte ihn in einen verruchten Schein – absolut passend, denn Julian war so verführerisch wie die Todsünde und so hochmütig wie der Teufel.
Er trug Schwarz wie eine zweite Haut, Hosen und Weste ohne Hemd. Das rote Licht kam von einer Fackel, die er in der Hand hielt.
Bei seinem Anblick wurde Jenny peinlich bewusst, wie mitgenommen sie im Gegensatz dazu aussehen musste. Aber so gefasst wie möglich sagte sie: »Du hast mich eingeladen zu kommen – und hier bin ich.«
Seine Antwort kam so prompt, als hätten sie sich schon seit Stunden unterhalten.
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