Die Entscheidung
verloren«, sagte er.
»Dann hast du das Wasser gar nicht geschickt?«
Er sah sie nur an.
Es schien nicht der richtige Zeitpunkt für Vorwürfe zu sein. Oh, vielleicht sollte sie aber irgendetwas sagen – vielleicht sollte sie all die Dinge aufzählen, die er ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Er hatte sie auf alle möglichen Arten verfolgt.
Aber hier und jetzt, in dieser kleinen Höhle, umringt von Fels, wo niemand war außer ihnen beiden und kein Geräusch außer dem sanften Tosen und Knistern des Feuers zu ihnen drang … schien all das sehr weit entfernt. Wie ein Teil eines vergangenen Lebens. Julian wirkte nicht wie ein Schattenmann, wirkte nicht wie
ein Jäger. Schließlich hatte er seine Beute gleich hier, erschöpft und hilflos. Er würde niemals eine bessere Chance bekommen. Wenn er sie wollte, würde sie sich nicht einmal wehren können.
Stattdessen sah er sie mit diesen seltsam benommenen Augen an, die immer noch dunkel waren vor Angst.
»Es hätte dir etwas ausgemacht, wenn ich gestorben wäre«, sagte sie langsam.
Für einen Moment schauten die dunklen Augen suchend in ihre, dann wandte er den Blick ab.
»Du weißt es wirklich nicht, oder?«, fragte er mit einer seltsamen Stimme.
Jenny erwiderte nichts. Sie zog sich in ihrem weißen Nest ein wenig hoch, bis sie aufrecht saß.
»Ich habe dir doch gesagt, was ich für dich empfinde.«
»Ja. Aber …« Julian hatte zwar immer behauptet, dass er sie liebte – aber Jenny hatte nie viel Zärtlichkeit in seinen Gefühlen gespürt. Vielleicht hätte sie ihm das sagen sollen, aber es schien ihr irgendwie unpassend – so verloren, wie er wirkte. Wie ein Kind, das auf einen Schlag wartete. »Aber ich habe nie verstanden, warum.«
»Ach nein.« Es war nicht einmal eine Frage.
»Wir sind so verschieden.« Es war Wahnsinn, darüber zu reden. Aber jetzt sahen sie einander an, wie sie einander noch nie zuvor angesehen hatten. Ganz still. Ohne einen Wimpernschlag – und ohne Herausforderung. Es bedeutet etwas, wenn man jemandem so lange
in die Augen schaut, dachte Jenny. Sie sollte es besser nicht tun.
Aber natürlich hatte sie sich von Anfang an gefragt, was er wohl in ihr sah. Wieso er sie wollte – so sehr, dass er über sie wachte, seit sie fünf Jahre alt gewesen war, dass er den Schleier zwischen den Welten durchdrang, dass er kam, um sie zu jagen und sie zu verfolgen, als denke er an nichts anderes.
»Warum, Julian?«, fragte sie leise.
»Möchtest du eine Liste?« Sein Gesicht war vollkommen leer, seine Stimme tonlos, abgehackt.
»Eine – was?«
»Haare wie flüssiger Bernstein, Augen so grün wie der Nil«, sagte er. Er wirkte vollkommen leidenschaftslos. Er hätte ebenso gut eine Seite mit Hausaufgaben vorlesen können. »Aber es ist nicht die Farbe, sondern der Ausdruck. Wenn du nachdenkst, werden sie ganz tief und weich.«
Jenny öffnete den Mund, doch er sprach weiter.
»Haut, die leuchtet, vor allem wenn du aufgeregt bist. Ein goldener Schimmer, der dich umgibt.«
»Aber …«
»Aber es gibt viele schöne Mädchen. Natürlich. Du bist anders. Etwas ist in dir, das dich anders macht, eine bestimmte Wesensart. Du bist – unschuldig. Süß, selbst nach allem, was dir zugemutet wurde. Sanft, aber mit einem feurigen Temperament.«
»Das bin ich nicht «, widersprach Jenny, beinahe verängstigt. »Audrey sagt manchmal, ich sei zu einfach …«
»Einfach wie Luft und Licht – Dinge, die die Menschen für selbstverständlich nehmen, ohne die sie jedoch sterben würden. Die Menschen sollten mehr darüber nachdenken.«
Jenny hatte jetzt wirklich Angst. Dieser neue Julian war gefährlich – er ließ sie schwach werden und machte sie schwindlig.
»Als ich dich das erste Mal sah, warst du wie eine Flut aus Sonnenstrahlen. Alle anderen wollten dich töten. Sie dachten, ich sei verrückt. Sie lachten …«
Er meint die anderen Schattenmänner, dachte Jenny.
»Aber ich wusste es besser und ich habe über dich gewacht. Du bist erwachsen und noch schöner geworden. Du warst so anders als alles in meiner Welt. Die anderen haben nur beobachtet, aber ich wollte dich. Nicht um dich zu töten oder dich auf eine Weise zu verbrauchen, wie sie es hier manchmal tun. Ich brauchte dich.«
Da war noch etwas anderes in seiner Stimme außer kalter Gelassenheit. Es war – Hunger, dachte Jenny, aber nicht dieser kalte, bösartige Hunger, den sie in den uralten Augen und den flüsternden Stimmen der anderen Schattenmänner
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