Die Entscheidung
noch kälter wurde – eiskalt? Julian hatte mit der Rune Kenaz eine Fackel heraufbeschworen. Also konnte sie vielleicht …
Sie war so benommen, dass sie kaum wusste, ob sie kroch oder im Wasser trieb, aber sie fand die oberste Stufe, und sie fand den Stein, den sie in den Riss zu stopfen versucht hatte. Die Dunkelheit machte sie blind, aber sie konnte die Wand fühlen. Und die Rune, die sie wollte, hatte die einfachste Form, die man sich nur vorstellen konnte.
Nur ein Strich, nach oben und unten. Ein großes I ohne jegliche Querstriche. Die Eisrune, Isa.
Sie kratzte sie direkt an die Stelle des Risses, direkt in den Wasserstrom. Und dann wartete sie, blind und beinahe gelähmt.
Es war zu kalt, um festzustellen, ob es funktioniert hatte. Aber dann spürte sie anstatt der wie betäubend sprudelnden Quelle – scharfe Zacken.
Was über die Rune Isa strömte, war zu einem gefrorenen
Wasserfall geworden. Das Wasser um Jenny herum blieb zwar flüssig, stieg aber nicht mehr weiter an.
Ich hab’s geschafft! Ich habe das Wasser aufgehalten! Es ist Eis, wunderschönes Eis!
Aufgeregt holte sie tief Luft, ohne länger Angst davor zu haben, die Luft zu verbrauchen. Oh Gott, es tat so gut zu atmen. Und die Rune hatte funktioniert. Sie konnte die Schattenwelt zwar nicht mit ihrem Geist kontrollieren, aber die Runen funktionierten.
Erst nach einigen Minuten kapierte sie, dass sie trotzdem sterben würde.
Nicht indem sie ertrank – zumindest nicht ganz, auch wenn sie am Ende untergehen würde. Aber vorher würde sie erfrieren.
Es war zu kalt – schon bevor sie den Wasserfall in Eiszapfen verwandelt hatte, war es zu kalt gewesen. Hier unten war es wie im Ozean, wie in der Nacht, in der die Titanic gesunken war. Sie würde an Unterkühlung sterben – würde das Bewusstsein verlieren, absinken. Und dann untergehen.
Und es gab nicht das Geringste, was sie dagegen tun konnte.
Sie war bereits viel zu schwach, als ihre benommenen Gedanken an der Fackelrune hängen blieben, Kenaz. Wenn sie sich daran erinnern konnte – wenn sie ihren Stein finden konnte – oder ihre Finger bewegen …
Aber der Stein war weg, ihre Finger waren zu betäubt
und ihr Gehirn trübte sich langsam. Sie verlor sanft das Bewusstsein, beinahe wie beim Einschlafen. Kenaz … Sie bewegte unter dem Wasser die gefrorenen Fleischklumpen, die ihre Hände waren, aber natürlich erschien keine Fackel. Wasser konnte zu Eis gefroren, aber nicht zu Feuer entfacht werden. Sie konnte die Regeln der Elemente nicht nach Lust und Laune verändern.
Wirre Gedankenfetzen wehten ihr durch den Kopf. Es tat nicht mehr weh, war nicht mehr so schlimm. Und nichts schien mehr dringend zu sein – was immer sie noch Sekunden zuvor umgetrieben hatte, war jetzt nicht mehr so wichtig.
Hilfe. Sie hatte das vage Gefühl, dass sie vielleicht um Hilfe rufen sollte. Aber auch dafür es schien keinen Grund mehr zu geben.
Er würde mich nicht hören. Das war’s. War es das? Er würde mich nicht hören. Zu weit entfernt.
Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Nichts spielte noch eine Rolle.
Gebo. Eine kleine Erinnerung blitzte in ihrem Kopf auf, kurz bevor er unter Wasser glitt. Gebo, die Rune des Opfers.
Oh, Tom.
Sterben war schmerzlos – aber traurig. Es tat weh, an die Menschen zu denken, die sie zurückließ.
Sie stellte sich immer wieder ihre Eltern vor, stellte sich vor, wie sie reagieren würden, wenn Dee und die anderen nach Hause kamen und es ihnen sagten. Falls Dee und die anderen nach Hause kamen.
Ihre Gedanken waren wirr wie Pusteblumenpollen, die vom Wind verweht wurden.
Mr und Mrs Parker-Pearson – Summers Eltern – waren fassungslos gewesen, als sie Summer verloren hatten. Jenny hasste die Vorstellung, dass ihre Eltern ebenso verletzt wurden.
Und Tom … was würde mit Tom geschehen? Vielleicht würde Julian ihn gehen lassen. Es hatte keinen Sinn, ihn festzuhalten, wenn Jenny tot war. Aber wahrscheinlich kam er nicht frei. Julian war ein Schattenmann, er gehörte einer Rasse an, die keine sanften Gefühle kannte, die kein Mitleid kannte.
Vielleicht würde Tom Julians Zorn zu spüren bekommen.
Bitte, nein, dachte Jenny … Aber auch das schien
keine große Rolle mehr zu spielen. Selbst ihre Traurigkeit verblasste jetzt – löste sich auf und driftete davon. Sie war tot, und sie konnte nichts mehr daran ändern.
Doch dann war da plötzlich dieser heftige Schmerz. Wie seltsam, dass eine Tote Schmerz empfinden konnte – körperlichen Schmerz.
Weitere Kostenlose Bücher