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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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wahrgenommen hatte. Es war, als hungere Julian nach etwas, das er nie bekommen hatte; als wäre er von einem lähmenden Verlangen erfüllt, das nicht einmal er selbst verstand.

    »Ich konnte nichts anderes sehen, konnte nichts anderes hören. Ich konnte nur an dich denken. Ich würde niemals zulassen, dass dir jemand wehtut. Ich wusste, dass ich dich haben musste, ganz gleich, was geschah. Sie sagten, ich sei verrückt vor Liebe.«
    Er war aufgestanden und an den Rand des Feuerscheins getreten. Wie er dort stand, hatte Jenny das Gefühl, ihn zum ersten Mal zu sehen; sie betrachtete ihn mit neuen Augen. Er sah – klein aus. Klein und beinah verwundbar.
    Das Universum stand still. Nur ihr Herz bewegte sich und ließ sie am ganzen Körper zittern.
    Sie hatte nie darüber nachgedacht, was die anderen Schattenmänner zu Julian sagen mochten. Sie wusste, dass er der jüngste einer sehr alten Rasse war, aber sie hatte niemals auch nur im Geringsten über sein Leben nachgedacht oder über seinen Standpunkt. Sie hatte nicht einmal erwogen, dass er einen Standpunkt hatte.
    »Wie ist es denn so, ein …« Sie zögerte.
    »Ein Schattenmann zu sein? Von den dunklen Orten aus alles zu beobachten, was in den Welten geschieht, die nicht voller Schatten sind? Auf der Erde gibt es Farben, die du hier niemals findest.«
    »Aber – du kannst alles machen, was du willst. Du kannst es erschaffen.«
    »Es ist nicht dasselbe. Die Dinge verblassen hier. Sie sind nicht von Dauer.«

    »Aber warum bleibst du dann hier? Statt uns nur zu beobachten, könntest du …« Jenny brach wieder ab. Gott, was redete sie da? Lud sie etwa gerade einen Schattenmann in ihre eigene Welt ein? Sie holte tief Luft. »Wenn du dich ändern könntest …«
    »Ich kann nicht ändern, was ich bin. Keiner von uns kann das. Der Rest der neun Welten hat sich uns verschlossen; sie sagen, unsere Natur sei zerstörerisch. Wir sind nirgendwo willkommen – aber wir werden immer in der Nähe der Erde sein und beobachten. Aus den Schatten …«
    Da lag etwas in seiner Stimme, leise und verbittert. Eine Entfremdung, die unaussprechlich trostlos war.
    »Für immer«, beendete er seinen Satz.
    »Für immer? Du stirbst niemals?«
    »Etwas, das nicht geboren wird, kann nicht sterben. Wir haben natürlich einen – Anfang. Unsere Namen werden auf einen Runenstab geschnitzt. Einen speziellen Runenstab.« Beinah spöttisch fügte er hinzu: »Auf den Stab des Lebens.«
    Da war etwas über Stäbe im Tagebuch ihres Großvaters gewesen. Ein mit Tinte gekritzeltes Bild, das eine Art hohen, flachen Zweig mit Runen darauf zeigte.
    »Schnitze unsere Namen auf den Stab – und wir beginnen zu existieren«, sagte Julian. »Schneide sie heraus – und wir verschwinden.«
    Das kam Jenny sehr herzlos vor. Kalt. Aber andererseits
waren die Schattenmänner kalt. Nicht Fleisch und Blut, sondern Kreaturen, die durch eine bloße Schnitzerei in Holz oder Stein entstanden.
    Wie kalt es doch ist, ein Schattenmann zu sein , dachte sie. Und wie traurig. Von seiner eigenen Zerstörungskraft dazu verdammt, für immer zu sein.
    Julian stand weiterhin am Rand des Feuerscheins, das Gesicht halb im Schatten, und schaute in die Dunkelheit hinein. Sein Anblick löste ein seltsames Gefühl in Jenny aus.
    Was wäre gewesen, wenn er nicht versucht hätte, sie zu zwingen?
    Von Anfang an hatte Julian mit Tricks und Gewalt gearbeitet. Er hatte sie in den Spieleladen gelockt und dazu verleitet, das Spiel zu kaufen. Er hatte genau gewusst: Wenn sie das Papierhaus zusammensetzte, würde es sie in die Schattenwelt saugen. Er hatte sie regelrecht entführt. Und dann war er aufgetaucht und hatte sie gequält, hatte sie gezwungen, sein eigenes dämonisches Spiel zu spielen, um ihre Freiheit zurückzugewinnen. Er hatte sie bedroht, hatte ihren Freunden wehgetan – und er hatte Summer getötet. Er hatte alles versucht, um sie zur Unterwerfung zu zwingen.
    »Hättest du nicht einfach kommen und fragen können?« , murmelte sie.
    Im Türmchen des Papierhauses hatte sie ihm das Gleiche gesagt. Hast du daran denn nie gedacht? Dass du einfach
an meiner Haustür erscheinen könntest, ohne Spiele, ohne Drohungen, um mich einfach zu fragen ? Aber im Türmchen waren die Worte Teil ihrer List gewesen, und sie hatte sie nicht wirklich ernst gemeint.
    Jetzt tat sie es. Was, wenn Julian zu ihr gekommen wäre , wenn er eines Nachts aus den Schatten aufgetaucht wäre, zum Beispiel auf ihrem Heimweg, und wenn er ihr gesagt hätte,

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