Die Entscheidung
ständig Angst hatte, dass ein Augenlid flackerte oder sich eine Brust hob und senkte.
Wenn sie zum Leben erwachen, drehe ich durch, dachte sie. Ich werde nur noch schreien und irre glotzen. Es wäre eigentlich fast eine Erleichterung, verrückt zu werden.
»Jenny …« Michaels Stimme klang erstickt.
Jenny drehte sich um.
»Blau«, sagte Michael nur, und Jenny sah, was er meinte.
Es war auf einem Tisch. Ein kleines porzellanblaues Häufchen von derselben Farbe wie Summers Shirtkleid. Darüber hing an einer rostigen Kette eine riesige Holzscheibe mit blutigen Eisendornen.
Und etwas war in diesem Kleid.
Seltsam, dass Jenny sich so genau an dieses Outfit erinnern konnte. Summer war an dem Abend von Toms Geburtstagsparty in jenem Kleid aufgetaucht, frisch, süß und absolut unpassend, da es draußen eiskalt gewesen war.
Jetzt lag das Kleid auf dem Tisch und umhüllte einen
Körper. Das Gesicht der Gestalt war abgewandt, aber Jenny konnte in Sandalen steckende Füße ausmachen. Und am anderen Ende einen Flaum weicher Locken.
Jenny stand wie erstarrt da.
Es kam so plötzlich, dass sie darauf nicht vorbereitet war. Sie hatte zwar inzwischen erkannt, dass Sterben in der Schattenwelt nicht bedeutete, dass man begraben wurde und verschwand. Sie wusste, dass sie nach Summer suchten, wie verwandelt sie auch sein mochte, wie geschändet sie auch sein mochte.
Und seit Michaels Traum hatte sie die leise Hoffnung gehegt, dass Summer vielleicht doch nicht ganz verloren war.
Aber jetzt, da sie direkt davor stand, wurde sie damit nicht fertig. Sie wollte nicht hingehen und nachsehen, wollte es nicht wissen. Sie schaute die anderen an und sah, dass sie ebenfalls wie gelähmt waren.
Du musst nachschauen. Du kannst es verkraften. Es ist wahrscheinlich nur eine ganz normale Wachsfigur. Und das ist kein Blut auf diesen Dornen, es ist rote Farbe.
Sie wusste, dass das alles vollkommen irrational war. Sie wusste nur zu gut, dass es wahrscheinlich keine normale Wachsfigur war und dass es keinen Grund gab, warum das Blut auf den Eisendornen irgendetwas anderes sein sollte als Blut. Nach allem, was sie in der Schattenwelt gesehen hatte, nach allem, was Slug, P. C. und ihrem Großvater zugestoßen war, wusste sie es.
Aber ihr Gehirn musste irgendetwas anderes befehlen, um ihre Beine in Gang zu setzen. Um das Bild zu vertreiben, wie Summers Kopf herunterfiel, wenn Jenny sie an der Schulter fasste.
Die riesige Holzscheibe schwang an ihrer Kette über dem Tisch.
Ich kann es verkraften. Ich kann es verkraften. Ich bin so stark, wie ich sein muss.
Jenny schob sich näher heran. Sie konnte Zuckerwattelocken sehen, genau in der Farbe von Summers Haar, und kleine Hände, gefaltet wie Rosenblätter. Das Gesicht konnte sie nicht sehen.
Die Scheibe schwang und knarrte.
Ich bin mein einziger Herr, sagte sich Jenny und griff nach der Schulter der Figur.
»Pass auf!«, rief Dee.
Es klapperte über Jenny – das Geräusch einer Kette, die über Holz kratzt. Instinktiv packte Jenny den Körper in dem porzellanblauen Kleid und zog ihn vom Tisch.
Aber nicht schnell genug. Die riesige Scheibe krachte direkt herunter – und schwenkte im letzten Moment zur Seite. Ein schwarzer Blitz schoss an Jenny vorbei.
Dee traf die Scheibe mit beiden Fersen, zwar nacheinander, aber so schnell, dass die Tritte gleichzeitig zu kommen schienen. Die Scheibe flog zur Seite und fiel neben dem Tisch zu Boden. Dee rappelte sich gerade wieder auf, als der Tisch zusammenkrachte und sie zu Boden riss. Dee fiel neben Jenny der Länge nach hin.
Das Bündel in Jennys Armen regte sich.
Der Schock hatte all die entsetzlichen Gedanken aus Jennys Kopf verscheucht, all die Bilder von dem, was in diesem blauen Kleid stecken mochte. All die entstellten, verwesten oder verfaulenden Gesichter mit Reißzähnen, die unter Summers Locken hervorschauen könnten.
Daher kam es ihr sogar ziemlich natürlich vor, Summers eigenes kleines Gesicht zu sehen, mit rosigen Wangen und blinzelnden schlafverkrusteten blauen Augen.
Summer gähnte und rieb sich die Lider.
»Ich bin so müde – was war das für ein Krach?«
Dee war inzwischen wieder auf den Beinen und kam zaghaft näher, ebenso wie Audrey und Michael.
»Ist sie tot?«, fragte Michael heiser.
Jenny wusste, was er meinte. Nur weil Summer reden konnte, bedeutete das nicht, dass sie nicht tot war – nicht hier in der Schattenwelt.
Aber das Bündel in Jennys Armen fühlte sich warm an, und Summers Körper sah nicht
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