Die Entscheidung der Hebamme
ihr geflohen seid. Sachsen hat einen neuen Herzog, der Löwe ist entmachtet. Herzog Bernhard und der Pfalzgraf von Thüringen sind mit ihren Streitmächten auf dem Weg hierher, um Goslar verteidigen zu helfen.«
»Was nützt uns das, edler Herr?«, hielt ihm eine hagere Frau mit faltenzerfurchtem Gesicht laut entgegen, der Kleidung nach anscheinend eine Witwe. »Da draußen am Rammelsberg wird uns niemand schützen. Selbst wenn wir in die Stadt flüchten – wer hilft unseren Männern und Brüdern, die weitab in den Gruben stecken und erst erfahren werden, was hier vorgeht, wenn es längst zu spät ist?«
An den Reaktionen der anderen konnte Christian erkennen, dass sie nicht nur ausgesprochen hatte, was die meisten von ihnen dachten, sondern auch unter den Familien der Bergleute angesehen zu sein schien.
»Wartet hier!«, befahl er. »Ich muss zurück zum Tor, aber ich lasse euch Nachricht bringen, ob es unsere Verbündeten sind, vor denen ihr geflohen seid. Und ich will mich darum kümmern, dass ihr rechtzeitig gewarnt werdet, wenn der Feind sich nähert.«
In der Hoffnung, dieses letzte Versprechen halten zu können, sprang er vom Fass und wandte sich an die Witwe. »Es gab Verletzte unter euch auf dem Weg hierher. Kannst du ein paar Leute losschicken, die sich um sie kümmern?«
Die Frau nickte, dann sagte sie: »Danke, Herr! Gott segne Euch für Eure Barmherzigkeit.«
Als er gehen wollte, hielt sie ihn mit einem Ruf zurück. »Herr! Wie können wir unsere Männer und Brüder warnen?«, fragte sie. »Die meisten Gruben sind ein ganzes Stück weg von hier.«
Christian überlegte kurz, während er in ihre besorgten Augen sah. »Morgen läuft der Waffenstillstand aus. Schick ihnen Nachricht, damit sie gleich hierherkommen und bei einem Angriff in der Stadt Schutz suchen können.«
»Das werde ich tun, Herr«, sagte die Frau entschlossen und straffte sich. »Besser, ein paar Tage Lohn zu verlieren als das Leben.«
Es war tatsächlich Bernhards Streitmacht, die sich Goslar genähert und dabei unbeabsichtigt die wilde Flucht vom Rammelsberg ausgelöst hatte.
Christian hatte keine Mühe, den Kommandanten der Stadt zu überzeugen, vor dem Anrücken der Thüringer die Familien der Bergleute zu informieren, damit sich so etwas nicht wiederholte. Der Kahle war bereits zu den gleichen Schlussfolgerungen gekommen.
Also meldete sich Christian mit Dietrich und den Meißner Reisigen beim neuernannten Herzog von Sachsen, um sich einen Platz in dessen Truppen zuweisen zu lassen.
Hedwigs jüngster Bruder begrüßte seinen Neffen leutselig, während er Christian misstrauisch beäugte. Dieser nutzte die Gelegenheit gleichfalls, um sein Gegenüber unauffällig zu mustern, und kam bald zu dem Schluss, dass er Bernhard nicht mochte. Die vor wenigen Tagen unverhofft gewonnene Herzogswürde war Hedwigs Bruder zu Kopf gestiegen.
So war er eher erleichtert als gekränkt darüber, dass der neue Herzog ihm vorschlug, sich selbst einen Platz zu suchen, an dem er mit Ottos Männern Goslar verteidigen konnte. Seinem Neffen bot Bernhard an, gemeinsam mit ihm und den anderen Befehlshabern den erwarteten Angriff von einem sicheren Ort aus mitzuverfolgen. Aber Dietrich bat höflichst um Erlaubnis, weiter seinem Ritter als Knappe dienen zu können.
Christian ahnte, dass nicht nur Abenteuerlust und Tatendrang den jungen Mann dazu trieben, sondern dass Dietrich selbst wenig Wert darauf legte, in der Nähe dieses Oheims zu bleiben. Wahrscheinlich hatte er auch gespürt, dass er Bernhard nicht so willkommen war, wie jener vorgab. Fürchtete der Herzog, es könne seiner neuen Würde schaden, ausgerechnet von dem Neffen begleitet zu werden, der wegen eines Angriffs auf einen Ritter des Königs vom Hof weggeschickt worden war?
Gefahr lauerte letztlich überall, sollte die Stadt gestürmt werden, überlegte Christian, und in seiner Nähe konnte Dietrich vermutlich mehr lernen als im Quartier der Befehlshaber, wo er bestenfalls ein stummer Zuhörer im Hintergrund sein würde.
Einen halben Tag nach Bernhard – gerade noch rechtzeitig vor Ablauf der Friedensfrist – rückte auch Ludwig von Thüringen mit seinem Heer an. Er brachte Nachricht von den Spionen des Kaisers, seines Vetters, dass der Löwe wie erwartet sein Heer Richtung Goslar in Bewegung setzen würde.
Der Befehlshaber von Goslar sandte auf allen Straßen, die aus der Kaiserstadt herausführten, Späher aus, die das Anrücken der Feinde rechtzeitig melden sollten.
Die
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