Die Entscheidung der Hebamme
Verteidiger der Stadt richteten sich auf ihren Posten ein.
Mit dem letzten Abend des Waffenstillstandes legte sich eine unheimliche, lähmende Ruhe über die Stadt. Niemand wagte es, seinen Platz zu verlassen, jedermann richtete seinen Blick auf die dicken Stadtmauern und Türme oder zum sternenklaren Himmel, betete und überprüfte wieder und wieder Waffen und Vorräte.
Dieser merkwürdige Zustand des Wartens hielt zwei Tage an. Zwei Tage, in denen wenig gesprochen wurde, ausgenommen Gebete.
Dann versetzte ein Warnruf die Besatzung des Stadttores in Alarm: »Sie kommen!«
Augenblicke später begannen alle Glocken von den Kirchtürmen zu läuten. Es schien, als erwachte die Stadt schlagartig von lähmendem Warten zu hektischer Betriebsamkeit.
Ritter, Soldaten und Stadtbürger griffen nach den Waffen und liefen zu den Posten, für die sie eingeteilt waren. Wer es von den Frauen, Kindern und Greisen nicht wagte, im eigenen Haus zu bleiben, suchte Zuflucht in einer der steinernen Kirchen.
Ein Dutzend Goslarer Handwerker, darunter auch eine stämmige Frau, fanden sich bei Roland ein, um bei der Verteidigung seines Mauerabschnittes zu helfen.
Ein letztes Mal wurde das Stadttor geöffnet, damit die Bergleute und ihre Familien hinter den Mauern Schutz suchen konnten, die vom Rammelsberg herbeigelaufen ka-men – zwar hastig, voller Angst und in Sorge um ihre Habe und ihren Broterwerb, aber diesmal ohne einander totzutreten.
Dann wurden sämtliche Tore verschlossen, die Fallgitter herabgelassen, Feuer unter den Pechkesseln geschürt und Gebete gesprochen, dass die Wälle und dicken Stadtmauern das feindliche Heer davon abhalten mögen, den Sturm auf Goslar zu versuchen.
Christian, Dietrich und ihre Reisigen erwarteten den anrückenden Feind zusammen mit Roland und dessen Leuten. Der junge Ritter schien auf einmal seine Nervosität überwunden zu haben. Mit überraschender Gelassenheit befahl er seinen Männern, anzutreten.
»Lasst uns Gott bitten, Seine schützende Hand über diese Stadt, unsere Familien und uns selbst zu halten!«, rief er.
Ohne Zögern knieten die Männer nieder. Christian und seine Gefolgsleute taten es ihnen gleich. Die miteinander verflochtenen Ringe der Kettenhemden klirrten, Leder knarrte, dann trat für einen Moment Stille ein. Jeder sprach sein Gebet und sandte seine Gedanken ein letztes Mal zu seinen Nächsten, bevor er sich ganz auf den Kampf konzentrieren musste. Christian griff wieder nach Marthes Silberkreuz, das er unter dem Gambeson trug.
Jäh richtete sich Roland auf, zog sein Schwert, küsste die blanke Klinge und reckte sie in die Höhe.
»Jedermann auf seinen Posten!«, rief er. »Zeigt den Hurensöhnen, dass das reiche Goslar zu stolz und zu stark ist, um sich von einem verfemten Thronräuber in die Knie zwingen zu lassen!«
Lautstark und mit emporgereckten Waffen schrien die Männer Zustimmung, um dann auf ihre Plätze zu eilen.
Nicht schlecht für eine Rede vor der Schlacht, dachte Christian. Kurz und anfeuernd, auch wenn Pater Sebastian sicher einwenden würde, dass Stolz eine Todsünde sei. Aber es war überzeugender, das mit seinem Leben zu verteidigen, was einem etwas bedeutete und worauf man stolz sein konnte. Und genau genommen hatte der Löwe nicht versucht, Friedrich Rotbart vom Thron zu stoßen, aber sicherlich mit dem Gedanken gespielt.
Er nickte Roland anerkennend zu, dann folgte er ihm die Treppen den Turm hinauf.
Das feindliche Heer war auf zwei Pfeilschuss Entfernung herangekommen.
Bereits jetzt ließ sich erkennen, dass die Streitmacht mehrere Tausend Mann stark war. Dabei konnten sie nicht wissen, ob Heinrich alle Truppen auf diesen einen Weg geschickt hatte oder ob sich weitere Angreifer von den anderen Seiten her der Stadt näherten.
Roland schien auf einmal die Ruhe selbst.
Auch Christian blieb gelassen. Die Goslarer Mauern waren stark, und letztlich lag ihr aller Schicksal in Gottes Hand.
Dietrich war gleichermaßen stolz und erleichtert, dass ihn Christian diesmal nicht an einen sicheren Ort oder zu seinem herzöglichen Onkel geschickt hatte, sondern ihn mit dem Schwert in der Hand an der Verteidigung Goslars teilnehmen ließ. Christian hatte Bernhard sogar um einen Kettenpanzer für Ottos Sohn gebeten, und der neuernannte Herzog zeigte sich großzügig und ließ seinem Neffen ein sorgfältig gearbeitetes Stück mit dicht verflochtenen Ringen, eine Kettenhaube und einen guten Gambeson bringen.
Wenn Marie mich so sehen könnte!, dachte
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