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Die Entscheidung der Hebamme

Die Entscheidung der Hebamme

Titel: Die Entscheidung der Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Ebert
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Alters, viele mit Kindern auf dem Arm oder an der Hand, erkannte Christian. Manche trugen ein dürftiges Bündel in der Hand, das sie vor ihrer heillosen Flucht gegriffen hatten.
    »Die Leute vom Rammelsberg«, rief Roland, während er sich schon wieder umwandte, um hinabzulaufen. »Sie denken, das sei das feindliche Heer!«
    Als sie unten anlangten, stürmten schon die ersten Verzweifelten auf das Tor zu.
    Roland gab es auf, sich dem Strom entgegenstellen und die Leute beschwichtigen zu wollen; er wäre überrannt worden. So befahl er, die Fliehenden einzulassen und das Tor hinter den Letzten zu verschließen. Denn es war seine Aufgabe, sich zu überzeugen, dass die Heranrückenden wirklich die Gefolgsleute des neuen und nicht die des entmachteten Herzogs von Sachsen waren. Er schickte zwei seiner Männer aus, dem Kommandanten der Stadt Meldung zu machen und ihn hierherzuholen, dann wandte er sich an Christian.
    »Könnt Ihr Euch um diese Leute kümmern?«
    Mit dem Kinn wies er auf den Strom der schreienden, rennenden Flüchtlinge, der sich ineinander verknäuelt hatte; es stand zu befürchten, dass totgetrampelt wurde, wer zu Boden stürzte.
    »Eine Panik ist das Letzte, was wir jetzt brauchen können. Es herrscht so schon genug Angst in der Stadt.«
    Christian nickte kurz zum Einverständnis, gab Dietrich das Zeichen, ihm zu folgen, und rannte der schreienden Menschenmenge hinterher, die scheinbar ziellos durch die Gassen flutete.
    Die Massenflucht hatte bereits erste Opfer gefunden. Eine Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht lag stöhnend auf dem Boden und versuchte vergeblich, wieder aufzukommen; das linke Bein hielt sie umklammert. Neben ihr lag ein Säugling auf dem Boden, ein paar Schritte abseits stand ein kleines Mädchen und weinte.
    Christian beugte sich zu der Frau hinab, der Tränen in den Augen standen. »Kannst du aufstehen?«, fragte er.
    Wortlos schüttelte die Frau den Kopf und hielt weiter mit schmerzverzerrtem Gesicht ihr Bein. Dann beugte sie sich hinüber zu dem Säugling, der keinen Laut mehr von sich gab, riss angstvoll die Augen auf und griff mit einem Schrei der Verzweiflung nach dem reglosen Bündel.
    »Mein Sohn! Mein kleiner Junge!«, wimmerte sie, während sie fassungslos auf den winzigen Leichnam starrte. Das Mädchen neben ihr weinte noch lauter.
    Christian sprach ein stummes Gebet. Er konnte jetzt nichts weiter für sie tun, als sie von der Straßenmitte wegzuziehen und an eine Hauswand zu lehnen. Die Gasse war wie leergefegt, auch hinter den Häuserfronten regte sich nichts, alle Türen waren fest verschlossen.
    Lautstark pochte er an die Tür des nächsten Hauses und rief: »Hier liegt eine Verletzte. Kümmert euch um sie oder holt wenigstens einen Bader!«
    Er bezweifelte, dass die Frau einen Bader bezahlen konnte, wenn dieser ihr das womöglich gebrochene Bein richtete und schiente. Doch er durfte sich jetzt nicht länger bei der Unglücklichen aufhalten.
    Hinter der nächsten Biegung lag ein weiteres Opfer der heillosen Flucht; eine dürre alte Frau mit Krücken, die sich nicht mehr regte und über deren verschlissenes hellgraues Kleid Fußabdrücke verliefen. Christian fragte sich, wie sie so weit in der rennenden Menschenmenge hatte mithalten können.
    Ein paar Schritte weiter fanden er und Dietrich einen zu Tode getrampelten kleinen Jungenkörper, dann zwei Kinder, die sich an den Händen hielten und verzweifelt nach ihrer Mutter schrien.
    Er ging auf die Kinder zu, die ihn mit großen, angstvollen Augen anstarrten, statt wegzurennen.
    »Kommt mit, wir suchen eure Mutter«, sagte er, und gehorsam folgten die Kleinen ihm und Dietrich.
    Rasch holten sie den Menschenstrom wieder ein, der allmählich langsamer geworden war, bis er zum Stehen kam. Den Verzweifelten schien zu dämmern, dass sie vorläufig in Sicherheit waren, und sie hatten kein Ziel mehr für ihre heillose Flucht. Ein Blick sagte Christian, dass es immer noch mehr als hundert Menschen sein mochten, die nun ratlos oder wehklagend hier zusammenstanden.
    Er stieg auf ein Fass vor dem Haus eines Schusters, das vermutlich zum Löschen dorthin gestellt war, und rief laut: »Hört mich an!«
    Nach und nach drehten sich die Menschen zu ihm um, manche verwundert, manche immer noch voller Angst.
    Von links hörte er einen erleichterten Aufschrei: Die beiden Kinder hatten ihre Mutter gefunden, die sie nun in die Arme riss und zu weinen begann.
    »Hört mich an!«, rief Christian erneut. »Es ist kein feindliches Heer, vor dem

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