Die Entscheidung der Hebamme
würdevoll sein.
Waltrud hatte Christians prachtvollsten Bliaut bringen lassen. Nachdem Marthe ihm die frischen Kleider übergestreift hatte – ein mühevolles Unterfangen, da Hartmut nur bereit war, jeweils eine einzige Schelle zu lösen – und Christians Hände und Füße wieder in Ketten waren, bat sie Hartmut um das Rasiermesser. Zögernd legte er es ihr in die Hand. Dann zog er sein Schwert und ließ sie nicht aus den Augen, während sie sorgfältig Christians Bart auf die gewohnte Form zurechtschnitt.
Als sie fertig war, gab sie Hartmut das Messer zurück und trat zwei Schritte beiseite.
»So ist es besser«, sagte sie und suchte nach Worten.
Sie wollte hier vor Hartmut nicht von Würde sprechen, denn genau das war es, was Albrecht ihm nehmen wollte.
Aber Christian verstand auch so.
»Danke.«
Mehr sagte er nicht. Alles andere las sie in seinen Augen, in seinem letzten Blick für sie: seine Liebe und die Bitte, morgen stark zu bleiben, seinen Abschiedsgruß.
Noch einmal nahm sie seinen Anblick in sich auf – in Ketten, aber voll innerer Stärke angesichts des möglichen Todes.
»Gott schütze dich«, sagte sie.
»Gott schütze dich und unsere Kinder«, antwortete er.
Sie durfte nicht vor seinen Augen weinen. Also stieg sie mit langsamen, bedächtigen Bewegungen nach oben und ließ sich von Hartmut zurück in ihre Kammer bringen.
»Wärt Ihr so gütig, ihm den Kaplan zu schicken, damit er ihm die Beichte abnimmt?«, fragte sie ihn.
Hartmut verstand und nickte.
»Schade um einen guten Mann«, sagte er, und sein Bedauern klang ehrlich. »Gott steh ihm bei und sei seiner Seele gnädig.«
Drei Pfeile
Noch nie hatten sich so viele Menschen auf dem Burghof eingefunden wie an jenem Morgen, als Albrecht über Christian Gericht halten wollte.
Nicht nur die ersten Siedler und viele Bewohner des Handwerkerviertels waren gekommen, sondern diesmal auch etliche Bergleute, die vom Bergmeister und den Obersteigern angeführt wurden. Albrecht hatte den Hof mit schwerbewaffneten Männern umstellen lassen. Er befürchtete einen Aufruhr oder aber einen Befreiungsversuch durch Christians Anhänger.
Marthe wurde, von zwei Bewaffneten bewacht, auf das Podest geführt, das für Ottos Sohn errichtet worden war und auf dem auch das Urteil vollzogen werden sollte. Jakob und Giselbert stellten sich neben sie; Jakob mit regloser Miene, Giselbert mit sichtlichem Triumph. Offenbar sollten die beiden in Elmars Auftrag zusätzlich auf sie aufpassen.
Diesmal hatte Albrecht keine Werkzeuge auf dem Richtblock auslegen lassen, sondern seinen stärksten Mann danebengestellt, der ein blankes Schwert vor sich hielt, die Spitze leicht auf den Boden gesetzt.
Sosehr sich Marthe auch zwang, den Blick von Block und Schwert abzuwenden, sie konnte das Grauen nicht bezwingen. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte, das zu tun, was Christian von ihr erwartete und verlangte.
Ihr suchender Blick wanderte über die Menschenmenge vor ihr. Dicht an dicht drängten sich die Christiansdorfer auf dem Platz und warteten. Direkt vor dem Podest standen Peter und seine Anhänger, manche mit tränenverschmierten Gesichtern, andere mit trotzigen Mienen. Der junge Christian, zurück von seinem nächtlichen Gewaltritt nach Meißen, hatte der weinenden Anna tröstend den Arm um die Schulter gelegt. Neben ihr standen Marthes Stieftöchter und Emma, die Frau des Schmiedes, mit ihren Söhnen. Mechthild, schwerkrank und auf Krücken gestützt, schneuzte sich laut, dann spuckte sie einem der Bewacher direkt vor die Füße, der herumfuhr und ihr einen derben Schlag ins Gesicht verpasste. Das brachte ihm eine solch deftige Schimpftirade ein, dass die Umstehenden trotz der angespannten Lage grimmig lachten.
Lukas, der Bergmeister Hermann, die Schmiede, Kaplan Hilbert und weitere angesehene Männer starrten finster vor sich hin.
Zu ihrer Überraschung entdeckte Marthe auch Raimund, den alten Friedmar und ein halbes Dutzend Ritter, die sie nur flüchtig kannte, bei ihnen. Ob Lukas sie über Nacht herbeigeholt hatte? Planten sie doch noch einen tollkühnen Befreiungsversuch im Angesicht von Albrechts Bewaffneten?
Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass zwei Soldaten Pater Sebastian auf das Podest halfen, der sich mit selbstgerechter Miene direkt ihr gegenüber aufstellte.
Doch der künftige Markgraf schien keine Eile zu haben, sondern sich beim Frühmahl besonders viel Zeit zu lassen.
Das ungeduldige Murmeln auf dem Burghof schwoll an und
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