Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
die Lippen zu bewegen.
Doch so sehr er sich auch bemühte, seine Stimme mit einem dünnen Murmeln zu verstecken – das war der Moment, in dem Bernina ihn erkannte.
»Nein, ich werde nicht mitkommen«, betonte sie scharf. Ihre Gedanken rasten. Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte das sein? Sie war verwirrt, konnte sich keinen Reim auf die Sache machen und suchte die Umgebung nach weiteren Gestalten ab – doch es war niemand zu entdecken.
»Mitkommen«, wiederholte er dumpf.
»Mir ist nicht klar, was hier gespielt wird«, gab sie scharf zurück, »aber auf jeden Fall war es ein Fehler: Ich hätte nicht hierher kommen sollen.«
»Zu spät.« Die Hand des Mannes verschwand unter dem Umhang, ganz kurz nur, und schon war eine Pistole auf Bernina gerichtet. »Los jetzt! Sie werden erwartet.«
Mit jeder Silbe war Bernina noch überzeugter, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie wusste, wer das war, ja, sie wusste es mit Sicherheit, und plötzlich umspielte ein Lächeln ihr Gesicht.
Im gleichen Moment schob sich ein Schatten durch das Geäst, so schnell, dass ihm kaum mit dem Auge zu folgen war. Ein kräftiger Schlag auf den Unterarm, die Pistole fiel zu Boden, und ein Hieb mit der Rückseite der Hand. Der Mann mit dem Umhang landete im Gras und starrte voller Verblüffung, voller Angst zu Nils Norby empor.
Der Schwede zeigte ein breites Grinsen.
Wortlos hob er die Pistole auf, um sie sich hinter den Gürtel zu stecken, mit dem er sein Lederwams umschloss. Dann packe der den Fremden und zog ihn auf die Beine.
»Hast du wirklich geglaubt«, knurrte er, »meine Frau würde mir nichts von deiner Nachricht mitteilen? Hast du wirklich geglaubt, Bernina würde allein hier auftauchen? Seit sie den Hof verlassen hat, bin ich bei ihr, du Narr.«
Bernina stellte sich neben Nils.
Der Fremde senkte die Lider. Im Wald knackte es, eine Eule schrie, ein leichter Wind brachte Äste und Zweige zum Rascheln.
Mit geschickten Fingern zog Bernina an dem langen Bart, doch er ließ sich nicht von dem schmalen Gesicht lösen, das sich darunter verbarg. »Na los«, forderte sie bestimmt. »Mach endlich Schluss mit deiner Maskerade.«
Der Angesprochene gehorchte. Er zog das Barett vom Kopf, ließ es achtlos fallen und nahm die dichte struppige Perücke ab, die mit dem ebenso struppigen Bart verbunden war. Anschließend wurden auch die Brauen entfernt – offensichtlich waren sie stark festgeklebt worden, wie ein kurzes Verziehen des Gesichtes verriet.
»Hol mich der Teufel!«, ließ Nils sich erstaunt vernehmen. »Dieses Weibsstück kenne ich.«
»Nicht nur du«, entgegnete Bernina gelassen, »ich ebenfalls. Nicht wahr, Alwine?«
Die junge Frau starrte vor sich hin, die Lippen eine harte Linie.
»Sind irgendwelche Kumpane bei dir? Aus Lorentz Fronwiesers Meute?«, wollte Bernina wissen, ohne selbst so recht daran zu glauben – die Bande war doch in alle Windrichtungen zerstreut worden. »Du bist gewiss nicht ohne Schutz hier, du hast doch nicht den ganzen Weg von Freiburg bis hierher allein zurückgelegt? Nun mach den Mund auf. Ich kapiere nicht, was das alles für einen Zweck hat. Warum sollte ich vom Hof weggelockt werden? Ich besitze nichts, was einer Räuberbande sonderlich begehrenswert erscheinen würde, das kann ich dir versichern. Warum all die Mühe? Warum das Versteckspiel? Und warum die Verkleidung?«
»Die Verkleidung trage ich schon eine Weile«, murmelte Alwine nach langem Zögern. »Es war sicherer, die Reise als Mann hinter mich zu bringen. Einer wehrlosen Frau werden die schlimmsten Dinge angetan.«
»Alwine, das ist doch nur die halbe Wahrheit.«
»Oder noch weniger«, warf Norby spöttisch ein.
»Ich bin mit keiner Bande unterwegs. Ich bin … « Sie suchte nach den Worten. »Es ist nicht so, dass hinter all dem eine böse Absicht steckt.«
»Aus deinem Gestammel wird keiner schlau, Mädchen.« Norby verdrehte die Augen.
»Er kann es Ihnen besser erklären.«
»Er?« Bernina betrachte sie forschend.
»Ja, er hat mir eingeschärft, ich dürfe unter keinen Umständen zugeben, dass ich mit ihm reise.« Trotz mischte sich Alwines Stimme. »Er soll Ihnen alles erzählen.«
»Er?«, wiederholte Bernina erneut.
Mit ausgestrecktem Arm zeigte Alwine in den Wald hinein. »Wir sind gleich bei ihm – es sind doch bloß noch ein paar Meter.«
»Also dann«, entschied Norby. »Ich bin schon mächtig gespannt.«
»Es erscheint mir zwar unglaublich«, meinte Bernina verhalten, »aber ich ahne
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