Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
immer.
*
Zweimal las sie die wenigen Zeilen. Schön geschwungene Buchstaben, mit nachtschwarzer Tinte auf brüchigem Papier geschrieben. Eine ganze Weile ließ sie die Worte auf sich wirken, um sie schließlich ein drittes Mal zu lesen.
Von der Scheune drangen weiterhin Hammerschläge zu ihr herüber. Nils war nach wie vor beschäftigt mit seinen Arbeiten.
Bernina faltete den Bogen zusammen und brachte ihn nach oben ins erste Stockwerk. Unter der Decke ihres Bettes versteckte sie die Nachricht, die ihr der Unbekannte hatte zukommen lassen. Oder stammte das Papier etwa gar nicht von einem Unbekannten? Sondern von einem Toten?
Den Tag über ging Bernina weiter ihren Aufgaben nach, als wäre nichts vorgefallen. Mit Nils führte sie alltägliche Gespräche. Die Nachmittagsstunden zogen langsam vorbei. Wolken trieben aufeinander zu und verhakten sich. Die Luft roch mehr und mehr nach Herbst. Ferdinand kam auf seinem Esel vom Fluck-Hof herübergeritten und arbeitete mit, das war Teil der nachbarschaftlichen Hilfe. Hermann Lottinger tauchte ebenfalls auf. Nach wie vor sandte die Teichdorfer Bürgerwehr Spähtrupps aus, die die Umgebung im Auge behielten. Wie Lottinger erfreut berichtete, waren jedoch keine Soldaten mehr gesichtet worden.
Als die Sonne verblasste, lud Bernina Lottinger und Ferdinand ein, zu bleiben. Bernina beteiligte sich während des Abendessens kaum an den Unterhaltungen. Nils und Hermann verständigten sich darauf, dass Nils in den folgenden Tagen auf dem Lottinger-Hof zur Hand gehen würde, was Hermann mit Erleichterung aufnahm, da bei ihm viel Arbeit anstand.
Erst jetzt berichtete Nils von dem Zwischenfall mit dem jungen Mann. Aber weder Lottinger noch Ferdinand konnten sich einen Reim darauf machen.
»In Teichdorf ist er jedenfalls nicht mehr gesehen worden«, meinte Ferdinand mit einem Achselzucken.
»Wahrscheinlich ist das einfach ein Bursche ohne Eltern, ohne Heimat«, vermutete Hermann. »Einer, den der Krieg vor sich her treibt, wie es viele gibt. Vielleicht stammt er von einem weit entfernten Hof und man hat ihm das Dach über dem Kopf angezündet. Wer weiß?«
Weder Nils noch Bernina sagten etwas dazu. Der Umstand, dass der Fremde Berninas Namen erwähnt hatte, kam nicht mehr zur Sprache.
Bei Einbruch der Dunkelheit verließen die beiden Gäste den Petersthal-Hof. Ein wilder Wolkenteppich lag über dem Schwarzwald. Während Nils mit einem Krug seines Bieres am Tisch sitzen blieb, zog Bernina sich zurück ins Schlafzimmer. Erst jetzt ließ sie Worte auf dem Papier wieder in ihre Gedanken vordringen, klar und deutlich, jedes einzelne davon.
Im ersten flirrenden Moment, als sie das Papier entdeckt hatte, hatte Bernina damit gerechnet, etwas Böses oder gar Bedrohliches lesen zu müssen. Aber es war keine Drohung, eher eine Bitte.
Bernina sollte sich, so verlangte der unbekannte Absender, an einer Lichtung einfinden, die ein ganzes Stück vom Petersthal-Hof entfernt versteckt im Wald lag, nördlich von Teichdorf. Und das schon am folgenden Tag. Die Worte schienen sehr bewusst gewählt worden zu sein, von jemandem, der sich auszudrücken verstand. Allein aus zwei Zeilen glaubte Bernina herauszulesen, wie wichtig dem Schreiber sein Anliegen war: ›Ich muss Sie dringend darum ersuchen, allein zu erscheinen. Bitte kommen Sie ohne Ihren Mann oder sonstige Begleiter.‹ Gleich darauf wurde die Zusicherung formuliert, Bernina würde nicht das Geringste zustoßen, sie würde sich keinerlei Gefahr aussetzen. Angeblich zwangen bestimmte Umstände den Schreiber, sich im Verborgenen zu halten, wie er es nannte.
Die Tür ging auf und Nils betrat den Raum, ein leises Pfeifen auf den Lippen. Er zog das Wams aus und hielt abrupt in seinen Bewegungen inne. Sein Blick erfasste sie. »Du siehst besorgt aus.« Er trat auf sie zu. »Hoffentlich nicht wegen dieses … «
»Nein, keineswegs«, unterbrach Bernina ihn sanft und doch bestimmt.
»Das wäre auch unnötig. Ich bin sicher … « Diesmal stoppte er sich selbst. Er musterte sie. »Was ist los?«
»Dieser Kerl macht mir keine Angst. Er war wohl nur so etwas wie ein Bote.«
»Was du nicht sagst.« Nils’ Augenbrauen gingen in die Höhe, ein wenig spöttisch, wie das seine Art war. »Und was bringt dich zu dieser plötzlichen Erkenntnis?«
»Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Er verschränkte seine Arme vor der Brust. »Obwohl ich mich eigentlich auf eine Runde Schlaf gefreut habe: Jetzt bin ich neugierig.«
»Ich habe«, begann
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