Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
jemand eine kleine Herde abgemagerter Kühe mit bimmelnden Glocken trieb. Holzbündel und Futtersäcke wurden zusammen mit Bierfässern auf einen Wagen geladen.
Ein Anblick versetzte Bernina einen Stich – unbewusst biss sie sich vor Mitleid auf die Unterlippe. Mit einem Strohkranz auf dem geschorenen Schädel stand eine junge Frau hilflos da, die Hände an den Schandpfahl gefesselt. Passanten schütteten Spott und Häme über sie aus, sie wurde angespuckt und mit Dreck beworfen.
»Eine jämmerliche Dirne«, murmelte einer der Kaufmänner in der Kutsche. »Oder eine Diebin.«
»Oder beides«, stimmte sein Begleiter mit gelangweiltem Unterton zu.
Unweit der Frau hielt sich ein Mann auf. Etwas schwelte in ihm, was Bernina sofort auffiel, etwas Unergründliches. Sein Blick tastete die Gefesselte ab. Es war unmöglich zu sagen, ob ihn ihre Situation schmerzte oder gar Anlass zur Schadenfreude gab. Er trug einen formlosen, verdreckten Schlapphut aus Filz. Ein Flickenumhang lag auf seinen Schultern. In bunt geschlitzten Pumphosen, wie Landsknechte sie benutzten, steckten seine Beine, von denen eines unterhalb des Knies amputiert worden war, sodass er sich auf eine Krücke stützen musste – einer von unzähligen Krüppeln, die der Krieg in die Städte spülte wie Laubblätter.
Plötzlich ruckte der Kopf des Mannes zu ihr herum, als könne er spüren, dass Bernina ihn musterte. Sein Blick suchte sie, und sie starrten einander an, Bernina abgestoßen, der Fremde mit einem sonderbaren Grinsen. Im nächsten Moment beschrieb die Kutsche einen Bogen und sowohl die bemitleidenswerte Frau als auch der Krüppel verschwanden aus Berninas Sichtfeld.
Kurz darauf fand die Fahrt ihr Ende. Bernina und Nils suchten einen Herbergsgasthof nach dem anderen auf, während Baldus bei Berninas Gepäck und den Pferden blieb. Doch überall das gleiche Bild – die Räumlichkeiten waren belegt, doppelt und dreifach, wie es schien. Erst bei einem kleinen, abgewirtschaftet wirkenden Haus in der Nähe der Freiburger Mehlwaage ergab sich eine Gelegenheit. Unter einem Vordach drängten sich Pferde im Schmutz aneinander, auch einige Karren standen dort. An eine stickige, überfüllte Gaststube grenzte ein langer Gang, auf dem sich, nur durch einen hüfthohen Bretterzaun abgetrennt, zwei Schweine und eine Ziege befanden. Hühner stolzierten herum. Der Gestank der Tiere wurde vom beißenden Rauch einer Feuerstelle an der gegenüberliegenden Wand überdeckt, deren Abzug anscheinend verstopft war. Hinter dem Zaun folgten ein paar kahle, von Tranlampen nur dürftig erhellte Herbergsräume. Einen davon konnten sie in Beschlag nehmen.
»Willkommen in Freiburg«, bemerkte Nils Norby mit seinem typischen Schmunzeln.
»Besser als gar nichts«, ließ Bernina sich nicht unterkriegen. »Fürs Erste wird es schon gehen. Vielleicht findet sich morgen etwas Besseres.«
Längst war die Nacht hereingebrochen. Nach einem kurzen Abendessen aus mitgebrachten Vorräten versuchten sie sich in ihrem Refugium einzurichten, so gut es ging, noch ein wenig matt von der Anreise. Sie gaben sich alle Mühe, die polternden Stimmen aus der Gaststube und das muffelnde Stroh der Schlafstellen nicht zu beachten, und wickelten sich in ihre Decken. Obwohl sie müde war, fand Bernina keinen Schlaf. Sie erhob sich noch einmal, angetrieben von einer eigenartigen inneren Unruhe, und trat zu dem einzigen Fenster, einem kleinen Quadrat, ausgefüllt mit Butzenscheiben, hinter denen die Gasse finster und leer lag.
Bernina erschrak, zuckte unwillkürlich zusammen. Lediglich ein paar Meter entfernt stand jemand, sie erkannte die Konturen einer Gestalt.
Und sie hielt die Luft an.
Die Gestalt näherte sich dem Fenster, humpelnd, gestützt auf eine Krücke. Obwohl die Scheiben schmutzig waren und Dunkelheit herrschte, trafen sich die Blicke von Bernina und dem Krüppel. Sie fühlte das Tasten seiner Augen mehr, als dass sie es sah, sie starrte ihn an, er starrte sie an, wie bereits bei ihrer Ankunft in der Stadt, und ihr war klar, dass sein Auftauchen kein Zufall war. Innerhalb eines Wimpernschlages verschmolz der Mann mit dem finsteren Hintergrund, als wäre er ein Trugbild gewesen. Fort, er war fort.
Bernina spürte eine Gänsehaut, rau und kalt, sie erinnerte sich an diesen abstrusen Moment, als sie in ihrer Einbildung plötzlich auf eine Grotte zugeschritten war, an die Angst, die sie dabei erfasst hatte. Ihre Gedanken glitten zu ihrer Mutter, die man als Hexe verbrannt und der man
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