Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
zum Frühstück eingeladen gewesen und hatten ihre Leute unter Sterbebefehl, der Ordre des Kampfes bis zum letzten Mann, zurückgelassen. Man kämpfte schon um Caën, im Grunde schon um Paris. Im Osten stand Minsk vor dem Fall, und nach Einnahme dieses Platzes kam ein russischer Vormarsch von fast unheimlicher Schnelligkeit in Fluß, bei dem die stärksten Festungen (Lemberg, Brest-Litowsk) wie reife Pflaumen fielen. Schönberg, und nicht er allein unter meinen Bekannten, glaubte damals steif und fest an ein abgekartetes Spiel, an eine Übereinkunft, durch welche allein der Kontrast zwischen der zähen deutschen Verteidigung in Italien und Frankreich und dem widerstandslosen Weichen im Osten sich erklären lasse. Aber war denn, nach allem, was geschehen, eine Verständigung der Russen mit dem gegenwärtigen deutschen Régime denkbar? Die Möglichkeit, daß Deutschland seinen einzigen Ausweg darin finden möchte, sich in die Arme Rußlands zu werfen, hatte auch ich oft in Betracht gezogen. Daß es ihm jetzt noch freistände, war stark zu bezweifeln, und ich fand jenen ziemlich weit verbreiteten Verdacht phantastisch. Übrigens verlangte Goebbels im »Reich«, während die »Robots« in England ihre Verwüstungen anrichteten, nach Frieden mit den Angelsachsen, beschuldigte Rußland und stellte nach alter, bewährter Art, die nur im Augenblick sich nicht bewähren wollte, alles auf die Angst vor dem Bolschewismus ab.
    Sainte Beuves meisterhafter Essay über Molière kam mir damals zum erstenmal in die Hände, ein glänzendes Stück kritischer Seligpreisung, umschwebt von allen Geistern französischer Tradition und Kultur. Die zweifelhafte Stellung des Dichter-Schauspielers in seiner Zeit und Gesellschaft, eine Stellung, die derjenigen Shakespeares sehr ähnlich gewesen sein {470} muß, ist ergreifend herausgearbeitet. Ludwig XIV. legte ihm Geflügel vor, aber den königlichen Offizieren war sein Verkehr nicht gut genug, und selbst Boileau bedauerte seinen »närrischen Einschlag«. Dabei zählt Sainte Beuve ihn zu den fünf oder sechs Genies der Welt, die, zwischen primitiven und zivilisierten, homerischen und alexandrinischen Epochen mitteninne wirkend, noch naiv und schon klug, in ihrer Fülle, Fruchtbarkeit, Leichtigkeit auch die Größten noch überragen, und zu denen er offenbar Goethe zum Beispiel nicht rechnet. Auch dieser selbst hat das wohl nicht getan, er hätte sonst Shakespeare nicht sein Leben lang so hoch über sich gesehen. Aber es finden sich Kennzeichnungen Goethes bei dem französischen Kenner, die das deutsche Ohr sonderbar scharf, wenn auch nicht untreffend, berühren. Er spricht von Molières Gefaßtheit, Selbstbeherrschung, Kühle und Luzidität in der Glut; aber diese gewohnheitsmäßige Kälte mitten im rührendsten Stück habe nichts mit der berechneten, eisigen Unparteilichkeit zu tun, wie man sie bei Goethe, diesem
Talleyrand der Kunst
, sehe. »Solche kritischen Raffinements im Schoße der Poesie waren damals noch nicht aufgekommen.« – Der Kritiker ist gegen die »kritischen Raffinements«. Im Grunde ist wohl einfach der Historiker gegen die Modernität. Was aber den »Talleyrand« in Goethe betrifft, so hat auch Byron ihn einen »alten Fuchs« genannt, und zwar anläßlich der »Wahlverwandtschaften«. – – In einem Schweizer Blatt las ich über den französischen Dichter St. John-Perse und notierte sein Urteil über Voltaires »Karl XII.«: »Außerordentlich, aber nicht groß.« Eine bemerkenswerte Unterscheidung! … Jacob Burckhardt war es, der über Voltaire gesagt hatte: »Bei ihm wird der Rationalismus dichterisch, ja magisch.« – Den deutschen Schriftsteller möchte ich sehen, der diesen Satz aus der Feder brächte! Die Schweiz ist das Land, wo auf deutsch das wohltuend Undeutsche gesagt {471} wird. Darum liebe ich sie. – Viel belehrte ich mich jetzt über Kierkegaard, sonderbarerweise bevor ich mich entschloß, ihn selbst zu lesen. Adorno hatte mir seine bedeutende Arbeit über ihn zugestellt. Ich studierte sie zusammen mit dem glänzenden Essay von Brandes. Eine Stelle bei Kierkegaard, die ich auszog, lautet: »Der Humorist stellt beständig die Gottesvorstellung mit etwas anderem zusammen und bringt den Widerspruch hervor, aber verhält sich nicht selbst in religiöser Leidenschaft (stricte sic dictus) zu Gott; er verwandelt sich selbst zu einer
scherzenden und tiefsinnigen Durchgangsstelle
für diesen ganzen Umsatz, aber verhält sich nicht selbst zu Gott.« –

Weitere Kostenlose Bücher