Die Entstehung des Doktor Faustus
ich, zum erstenmal, in Goethes Übersetzung las, – mit Bewunderung für die Typen- und Charakterschau weltgeschichtlichen Stils, die das geniale Stück bietet. Außerdem beschäftigte mich eine kuriose Scharteke, die ich irgendwie aufgetrieben:
Musikalische Briefe eines Wohlbekannten
(Leipzig 1852), – ein Buch von lehrreicher Komik, bürgerliches Zeitalter in Reinkultur, der Tonfall des Bildungsphilisters, wie er in Nietzsches Buche steht. Dennoch, trotz haarsträubender Naivitäten, war manches Zukömmliche daraus zu erfahren, zum Beispiel über Mendelssohn. –
Die Arbeit am Roman hatte jetzt, ungeachtet mancher {467} schweren Stunde, mancher Niedergeschlagenheit durch das »Bewußtsein falschen Schreibens«, etwas von dem Impetus des ersten Anlaufs zurückgewonnen. Lag es daran, daß »meine Jahreszeit«, der Mai und Juni, die Zeit meiner Geburt, da war, wo meine Lebenskräfte zu wachsen pflegen? Das XVI. Kapitel mit Adrians Brief aus Leipzig, der Nietzsches Kölner Bordell-Abenteuer »montiert«, und das XVII., die Analyse dieses Briefes durch den sorgenden Empfänger, folgten rasch aufeinander. Ich hatte mich dem hemmenden Motiv-Geschling der expositionellen Teile des Buches entwunden und sah offene Handlung vor mir, konnte die schmerzliche Liebesgeschichte mit dem giftigen Schmetterling erzählen, die h e a e es-Chiffre einprägen, die Ärzte-Groteske mit der wunderlichen Unbestimmtheit vortragen, auf die ich mir durch vieles längst zu verstehen Gegebene ein Recht gesichert hatte. Am 6. Juni, meinem 69. Geburtstag, rief morgens, bevor ich noch einen Blick in die Blätter getan, aus Washington Agnes Meyer mich an, um mit ihrem Glückwunsch die Nachricht zu verbinden, daß die
Invasion Frankreichs
in der Normandie begonnen habe. Sie war im Besitz direkter und befriedigender Nachrichten aus dem Kriegsministerium. Die Bewegung war groß, und zurückblickend auf die Abenteuer dieser elf Jahre ließ ich es mir nicht nehmen, eine sinnvolle Fügung, eine der »Stimmigkeiten« meines Lebens darin zu sehen, daß das ersehnte, kaum für möglich gehaltene Ereignis auf diesen Tag, meinen Tag, fiel. Natürlich stand der Gedanke daran, die Sorge um einen glücklichen Fortgang der Aktion im Hintergrund aller festlichen Freundlichkeiten, die der Tag mir brachte. Der Landung galt alles Gespräch mit Besuchern. Das Telephon stand nicht still. Und es will etwas heißen, daß ich auch an diesem Tage, von meinem Arbeitstisch mehrfach abgerufen, den Roman fast um das normale tägliche Pensum förderte. Abends sahen wir Wer {468} fels und Franks bei uns. »Gespräch über die Welt des Buches.« Dann: »Hörten 11 Uhr ausführliche Invasionsnachrichten aus Hollywood und London.«
VIII
Freitag, der 23. Juni 44 war, wie ich schrieb, »ein denkwürdiger Tag im Gange dieser elfjährigen Aufzeichnungen«. Wir waren sehr zeitig auf und fuhren gleich nach dem Frühstück nach Los Angeles zum Federal Building. Dort nahm ein vollbesetzter Saal uns auf, darin Beamte Anweisungen erteilten. Der »Judge« erschien, ließ sich im Podium-Stuhle nieder und hielt eine Ansprache, die durch gute Form und freundlichen Gedankengang gewiß nicht nur mir zu Herzen ging. Man erhob sich zu gemeinsamer Eidesleistung und hatte dann einzeln an anderer Stelle die Einbürgerungspapiere zu unterzeichnen. So waren wir amerikanische »citizens«, und ich denke gern – tue aber gut, mich kurz zu fassen beim Aussprechen dieses Gedankens –, daß ich es noch unter Roosevelt, in
seinem
Amerika geworden bin.
Zu Adrians Leipziger Brief, einem tour de force und einem der Sorgenpunkte des Buches, kehrte ich aus späteren Abschnitten noch wiederholt, unzufrieden ändernd, zurück: »Wie man es macht, ist es falsch. Bin ich gezwungen, den Stoff auszutrocknen und zu verderben? –« Es waren Augenblicke – und recht ausgedehnte zuweilen – gequälter Müdigkeit. Vielleicht trugen mangelhafte Gesundheit und ein zu niedriger Blutdruck – eine der weniger günstigen Wirkungen des kalifornischen Klimas – die Schuld daran. Ich war appetitlos, dyspeptisch, matt und überkritisch gegen alles, was ich tat. Der Arzt verordnete Atropin, Salzsäure, Vitamin-Injektionen, – deren einziger Nutzen nach meiner Erfahrung in dem Bewußtsein besteht, daß etwas geschieht. Viel besser schlugen die Nachrichten von Cherbourg an, Meldungen wie die von der {469} Kapitulation des deutschen Generals und Admirals nach heroischen Radiogrammen an den Führer. Die beiden waren
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