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Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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die als Kulturerrungenschaft ironischerweise beibehalten wird. Desto stärker arbeitete ich dafür den Barbarismus des instrumentalen und vokalen Glissando heraus. –
    {521} Weihnachten, ein regnerisches, vorerst einmal wieder, – die kleine Familie aus San Francisco – Mill Valley traf dazu ein, und da es an Lametta fehlte für den Baum, waren wir am Vorabend geschäftig, eine Menge von angesammeltem Stanniol in schmale Streifen zu schneiden, damit die Bübchen sich freuten. »Wiedersehen mit Frido – beglückend.« Ich schrieb noch am XXXIII. Kapitel während der Festtage, in das ich Adrians sonderbar angelegentliche Betrachtungen über die Schönheit und Wahrheit des Meerweibes nachträglich interpolierte, und schloß es erst kurz vor Ende des Jahres ab. Es hatte siebenundzwanzig Tage gekostet. Adorno ließ mich wissen, daß er alles gelesen und Notizen zur Besprechung vorbereitet habe. – »Am Kapitel gebessert. Auf dem Spaziergang überwältigend müde und den Rest des Tages leidend und schläfrig, ohne schlafen zu können. Empfing Dr. Schiff. (Bisher hatte der Doktor Wolf geheißen, aber wiederholter Ärztewechsel ist bei Zuständen wie meinem typisch; es sollte auch noch Dr. Rosenthal, meines Bruders Arzt, an die Reihe kommen.) Er sprach den Luftröhren- und Nebenhöhlenkatarrh als vermutlich infektiös an und verordnete allerlei Linderndes, Lösendes, Stärkendes.« So das Tagebuch. Gut denn, ich war fieberfrei, war nicht krank, sondern nur halbkrank und hielt also an meinem Alltag fest, dem gewohnten Turnus von Arbeit, Lektüre, Marschieren gegen das Meer hinab, Briefdiktaten und handschriftlicher Korrespondenz. »Warum nur alle, die einwandern wollen oder einen ›job‹ suchen, sich an mich wenden!« Frage an das Schicksal. – Die Vorbereitungen zum dreigeteilten XXXIV. Kapitel begannen sogleich mit dem neuen Jahr 1946, dessen erster Tageseintrag dem
Faustus
als Ganzem galt, und zwar im Zusammenhang mit der Durchsicht von Max Osborns
Memoiren,
für die mich der Autor um ein Vorwort ersucht hatte. Ich las da von Menzel, Liebermann, Klinger, Lesser-Ury, Bode, dem Museumsgewal {522} tigen. »Lauter Persönlichkeiten! Ich glaube, ich bin keine. Man wird sich an mich so wenig erinnern wie etwa an Proust.« Und plötzlich: »Wieviel enthält der
Faustus
von meiner Lebensstimmung! Ein radikales Bekenntnis im Grunde. Das war das Aufwühlende, von Anbeginn, an dem Buch.«
    An einem der nächsten Nachmittage war ich bei Adorno. Er und seine Frau hatten das Manuskript gleichzeitig gelesen, hatten die Blätter einander aus der Hand genommen, und ich, der Zweifelnde, horchte begierig auf ihren Bericht über die Beteiligung, Spannung, Erregung, mit der sie es getan. Daß der Verfasser der
Philosophie der modernen Musik
durchaus gute Miene zu der Art machte, wie ich meinen werkfeindlichen Teufel mit etwelchen seiner zeitkritischen Aperçus »in die Kunst hatte hineinhofieren« lassen, wie Adrian es ausdrückt, erleichterte mein Gewissen. Mit ihm allein in seinem Arbeitszimmer konnte ich viel Gutes und Kluges von ihm hören über Größe und Schwierigkeit des Vorwurfs. Manches von dem Geschriebenen war ihm durch Vorlesungen bekannt, mehreres neu gewesen, und er ließ sich besonders aus über die »Humanität«, die aus dem Abschnitt über die dienenden Frauen, die »Erfahrung«, die aus Ines Roddes leidenschaftlichen Eröffnungen gegen Serenus, den »Guten«, keine Emotionen Weckenden, spreche. Er war nicht sehr eingenommen von dem Gedanken, der sich bei mir doch längst unwiderruflich befestigt hatte, das Oratorium auf Dürers apokalyptische Blätter zu gründen, und wir kamen überein, daß der innere Raum des Werkes möglichst ins allgemein Eschatologische erweitert werden, möglichst die ganze »apokalyptische Kultur« aufnehmen und als eine Art von Résumé aller Verkündigungen des Endes dargestellt werden müsse. Mit dergleichen Absichten war ich ohnedies umgegangen, denn die Anleihen, die Johannes von Patmos bei anderen Visionären und Ekstatikern gemacht, sind {523} auffallend genug, und die Tatsache, daß es in dieser Sphäre eine uralte Konvention und Überlieferung gibt, die den Heimgesuchten fixe Gesichte und Erlebnisse zur Verfügung stellt; die psychologische Merkwürdigkeit, daß, wie es im Texte heißt, »einer nachfiebert, was andere vorgefiebert, und daß man unselbständig, anleiheweise und nach der Schablone verzückt ist«, schien mir höchst reizvoll und betonenswert, und ich sagte mir

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