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Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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bei jener Bemerkung wohl schon diejenige Person meiner Umgebung im Auge, für die das väterliche Wort galt: »Mit mir nur rat’ ich, red’ ich zu dir«, und deren Rat nur meine eigene Rede sein würde.
    Vorderhand war es gut, wieder vorwärtszukommen. Mitte Juni war noch nicht heran, als ich XXXV, das Schicksal der armen Clarissa, frei nach dem Leben, einer geschwisterlichen Wirklichkeit, zu schreiben anfing, und zwölf Tage später war es geschlossen, so daß noch vor Ende des Monats das nächste begonnen werden konnte, das die deutsche Atmosphäre der zwanziger Jahre erinnert, die sich unsichtbar haltende Freundin, ein Beispiel tiefster Diskretion, einführt und sich an der Beschreibung ihres Ringgeschenkes vergnügt. Mein 71. Geburtstag war zwischenein gefallen. Die nützlich-notwendigste Gabe, die er mir gebracht hatte, war ein hübscher Klappsessel, der uns nun bei Ausfahrten begleitete, um mir im Freien, an bevorzugten Punkten mit Meeresausblick, als Ruhesitz zu dienen. Es hatte mit dem Gehen noch seine Schwierigkeiten, und meine angeborene Unfähigkeit, über den gegenwärtigen Zustand hinauszudenken, spiegelte mir vor, daß ich nun bis ans Ende meiner Tage mit dem Klappsessel würde auszuziehen haben, – der doch sehr bald wieder aus meinem Gebrauch verschwand. – In der von Gide gegründeten Zeitschrift »L’ Arche«, die ich regelmäßig empfing, las ich eine instruktive Studie über den Schönberg-Schüler Anton von Webern, die Offenheit des intellektuellen Frankreichs für die moderne Musik {550} bezeugend; dazu einen klug gefühlten Aufsatz über Nietzsches Atheismus, verstanden als eine religiöse Sonderform, in Übereinstimmung mit der mir sehr naheliegenden Auffassung, der ich selbst in der amerikanischen Kritik schon begegnet bin: daß Nietzsches Kampf gegen die christliche Moral ein Ereignis
innerhalb
der Geschichte des Christentums bildet. – Stephen Spender hatte das zerstörte Deutschland bereist; sein sehr lebendiger Bericht darüber erschien auf deutsch in der »Neuen Schweizer Rundschau« und flößte gelinden Schrecken ein durch seine dégoûtierte Schilderung der tragischen Ergüsse deutscher Schriftsteller in ihrer nichtsnutzigen Verwaschenheit, ihrem gemütvollen Dünkel, – gelindes Entsetzen wieder einmal vor dem Gehaben der »Inneren Emigration«. »Mit den Augen des Westens« hätte der Artikel heißen können, wie das Meisterwerk Joseph Conrads, von dem ich vor dem Schlafengehen jetzt sehr viel oder alles las: ich hatte mit
Lord Jim
begonnen, fuhr fort mit
Victory
und las in Wochen die ganze Reihe dieser Romane durch, unterhalten, beeindruckt und als Deutscher irgendwie beschämt durch eine männliche, abenteuerliche und sprachlich hochstehende, psychologisch-moralisch tiefe Erzählungskunst, wie sie bei uns nicht nur selten ist, sondern
fehlt
. –
Der Grüne Heinrich
, durch Goethe auch mit dem
Nachsommer
verwandt, wie mir auffiel, beschäftigte mich noch immer weiter. Bewunderungsvoll bis zum Schluß, ließ ich mich in meiner literarhistorischen Unwissenheit verwirren und intriguieren durch die Nichtübereinstimmung des vierten Bandes, wie er mir jetzt vorlag, mit der im Krankenzimmer benutzten Ausgabe, von der offenbar doppelten Fassung, die in den dritten Teil zurückreicht, denn auch das »Narrengefecht« dort hat verschiedenen Ausgang, da Lys in einer Version nachträglich an seiner Wunde stirbt. Und wie sonderbar, sonst nie vorkommend, das spätere Verlassen der autobiographischen {551} Form, der Übergang vom Ich in die dritte Person! Glücklicherweise besuchte uns eines Juni-Tages ein Zürcher Freund, der junge Schriftsteller Richard Schweizer, der in Filmangelegenheiten an dieser Küste zu tun hatte; bei ihm beschwerte ich mich über diese Unstimmigkeiten, zog ihn zur Verantwortung dafür, und einige Wochen später, als er sich nach Zürich zurückgeschwungen, empfing ich von ihm, in acht schön gedruckten Leinenbänden, die beiden von Jonas Fränkel »auf Grund des Nachlasses« herausgegebenen Fassungen des herrlichen Werks: die von 1926 und die von 1854, wie sie nun zu klarer Übersicht auf einem Bort meines Arbeitszimmers stehen. –
    Eine erfreulich eindrucksvolle Nachricht kam aus Deutschland: Über
Lotte in Weimar
wurden an Ort und Stelle, und zwar in den Gesellschaftsräumen des Goethe-Hauses selbst, unter russischer Protektion eine Reihe von Vorträgen gehalten, die, wenn ich recht berichtet war, großen Zulauf hatten. Das Vorkommnis berührte mich

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