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Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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tief. Es hatte übrigens ein komisches Gegenstück, von dem ich etwas später Kunde erhielt. Schon während des Krieges hatten einzelne Exemplare des Romans, aus der Schweiz eingeschmuggelt, in Deutschland kursiert, und Hasser des Régimes hatten aus dem großen Monolog des Siebenten Kapitels, worin das Authentische und Belegbare sich ununterscheidbar mit dem Apokryphen, wenn auch sprachlich und geistig durchaus Angepaßten mischt, einzelne dem deutschen Charakter recht nahetretende und Unheil prophezeiende Dikta ausgezogen, sie vervielfältigt und sie unter dem Tarnungstitel
Aus Goethes Gesprächen mit Riemer
als Flugblatt unter die Leute gebracht. Ein Durchschlag davon, oder die Übersetzung des eigenartigen Falsums war dem britischen Ankläger im Nürnberger Prozeß, Sir Hartley Shawcross, vorgelegt worden, und guten Glaubens, verführt durch das {552} aktuell Schlagende der Äußerungen, hatte er in seinem Plaidoyer ausgiebige Anführungen daraus gemacht. Sein Irrtum sollte ihm nicht geschenkt sein. Im »Literary Supplement der London Times« erschien ein Artikel, worin nachgewiesen wurde, daß Shawcross nicht Goethe, sondern meinen Roman zitiert habe, – was gelinde Verlegenheit in Londoner offiziellen Kreisen schuf. Im Auftrage des Foreign Office schrieb mir der Botschafter in Washington, Lord Inverchapel, und bat um Aufklärung. In meiner Antwort gab ich zu, die »Times« hätten recht, es handle sich um eine von ihren Urhebern gutgemeinte Mystifikation. Doch verbürgte ich mich dafür, daß, wenn Goethe nicht wirklich gesagt habe, was der Ankläger ihm in den Mund gelegt, er es doch sehr wohl hätte sagen können, und in einem höheren Sinn habe Sir Hartley also doch
richtig
zitiert.
    Diese kleine Komödie der Irrungen spielte erst etwas später, im Hochsommer. Noch im Juni aber traf mich aus Deutschland, zunächst ohne Einzelheiten, eine weit ernstere und rührendere Nachricht: Am 6. des Monats, gerade an meinem Geburtstag also, war Gerhart Hauptmann gestorben. Das Nähere, die Nötigung, sein von den Polen requiriertes Haus im schlesischen Gebirg zu verlassen, das Sich-niederlegen und Sterben des Vierundachtzigjährigen in der Auflösung des Haushalts, bei gepackten Koffern, erfuhr ich erst später. Meine Gedanken beschäftigten sich viel mit dem nun Verewigten, mit unseren zahlreichen Begegnungen, die gelegentlich, in Bozen und auf Hiddensee, zu einem Zusammenleben unter demselben Dache wurden, – mit dem grundeigentümlichen, skurrilen teils und teils auch immer ergreifenden, tief gewinnenden, zu Liebe und Ehrfurcht anhaltenden Erlebnis seiner Persönlichkeit. Zweifellos hatte sie etwas Attrappenhaftes, bedeutsam Nichtiges, diese »Persönlichkeit«, hatte in ihrer geistigen Gebundenheit {553} etwas von steckengebliebener, nicht recht fertig gewordener und ausartikulierter, maskenhafter Größe, also daß man, sonderbar gebannt, stundenlang an den Lippen des gebärdenreichen Mannes im schlohweißen Haar hängen mochte, ohne daß bei der Sache irgend etwas »herauskam«. Und doch kam unter Umständen etwas zwar vielleicht sehr Einfaches, aber durch die Persönlichkeit eigentümlich ins Relief Getriebenes und zu neuer und starker Wahrheit Erhobenes heraus, das man nie wieder vergaß. Eines Abends in Hiddensee, es mag der Sommer 23 gewesen sein, hatte er uns auf seinem Zimmer (seine Sekretärin, die Jungmann, war auch dabei) aus seinem Till Eulenspiegel-Epos vorgelesen, den unheimlichen Gesang, worin die Sonne aufzugehen versäumt, und nach einigem Gespräch darüber forderte er mich auf, nun etwas aus dem
Zauberberg
mitzuteilen, in dessen drittem Viertel etwa ich damals stand. Ich wehrte ab. Es widerstand mir ehrlich, zu lesen, nachdem er gelesen hatte, und ich sagte es. Nun geriet er in Bewegung. Es dauerte eine Weile, bis er hervorbrachte, was in ihm arbeitete. Voran gingen pantomimischer Widerspruch, Gesten, bannende Winke zur Aufmerksamkeit. Dann kam es: »Lieber Freund … Nicht so … Sie haben unrecht …
In unseres Vaters Hause sind viele Wohnungen!
« – Das war so gut, als Wort so gefunden und empfunden,
so groß
gedacht und wohl angebracht, daß es mich in tiefster Seele rührte. Meinen Beifall beantwortete er mit wiederholtem und zufriedenem: »Nichtwahr? Nichtwahr?«, und so sträubte ich mich nicht länger. Ich las etwas jüngst Geschriebenes, das Kapitel »Strandspaziergang«, ein recht abstraktes Stück humoristischer Philosophie, das schlecht aus dem Zusammenhang zu nehmen ist, und

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