Die Erben
Steinen. Er hob langsam den Blick zur Waagerechten und sah die Wolken ihres Atems in der Luft schweben gleich dem Dunstnebel über dem Fall. Er rührte sich nicht von der Stelle, und Fa schien in ihrem eigenen Atem zu verschwimmen.
Ringsum Höhe und Freie. Der Ort war von Felsen eingefaßt, und überall fingerten die Efeupflanzen empor, bis sie hoch über seinem Kopf im Gestein verästelten. Wo sie dem Boden des Heiligtums entwuchsen, schwollen sie zu Eichenstämmen an. Ihre hohen Äste verschwanden in Eishöhlen. Lok trat zurück und blickte auf Fa, die dem höhergelegenen Ende des Heiligtums zugeschritten war. Sie kauerte sich auf den Steinen nieder und hob das Fleischbündel hoch. Kein Geräusch unterbrach die Stille, nicht einmal das Tosen des Wasserfalls unten in der Schlucht.
Fa begann zu sprechen, kaum lauter als im Flüsterton. Zuerst hörte er noch einzelne Worte, »Oa«, und »Mal«: aber die Wände warfen die Worte zurück, und sie prallten wieder und wieder hin und her. »Oa« sagten die Wand und der große Efeubaum, und von der Felsfläche hinter Lok sang es »Oa Oa Oa«. Dann gaben sie keine einzelnen Worte mehr wieder und sangen »O« und »A« zur gleichen Zeit. Der Laut stieg empor wie Flut in einem Strandtümpel, weich wie Wasser, ward zu einem dröhnenden »A«, das ihn überrollte, ertränkte. »Krank, krank« sagte die Rückwand des Heiligtums; »Mal« sagten die Felsen hinter ihm, und die Luft erklang von der endlosen, hochwellenden Flut des »Oa«. Die Haare sträubten sich auf seinem Fell. Er bewegte die Lippen, als wollte er »Oa« sagen. Er blickte auf und sah die Eisfrauen. Die Nischen, in die die Efeuzweige eintauchten, waren ihre Lenden. Ihre Schenkel und Leibesrundungen entwuchsen der hohen Klippe. Sie hingen in den Raum hinein, so daß der Himmel kleiner war als die Bodenfläche des Heiligtums. Körper in Körper verschränkt neigten sie sich vor, wölbten sie sich aus der Wand, und ihre Häupter ragten spitz in das Licht des Mondes und blitzten. Er sah, daß ihre Lenden wie Höhlungen waren, blau und schrecklich. Sie standen vom Fels ab, und der Efeu war ihr Wasser, das zwischen Gestein und Eis hinableckte. Die Lautflut war bis zu ihren Knien emporgewellt. »Aaaa« sang die Klippe, »Aaaa –«
Lok ruhte mit dem Gesicht auf Eis. Obgleich Reif in seinem Haar funkelte, war ihm der Schweiß durch das Fell gebrochen. Er fühlte, wie die Klamm sich drehte. Fa rüttelte ihn am Arm. »Komm!«
Es war ihm im Leib, als habe er Gras gegessen und müsse sich erbrechen. Er sah nur grüne Lichter vor Augen, die mit gnadenloser Rastlosigkeit durch eine Leere aus Nacht dahertanzten. Die Stimme des Heiligtums hatte Eingang gefunden in seinen Kopf und wogte darin wie das Geräusch des Meeres in einer Muschel. Fas Lippen bewegten sich an seinem Ohr. »Ehe sie dich sehen –«
Die Eisfrauen fielen ihm wieder ein. Er hielt die Augen an den Boden geheftet, damit er nicht das furchtbare Licht sähe, und begann davonzukriechen. Sein Körper war wie leblos und seiner Gewalt entzogen. Er schwankte Fa hinterdrein, und dann waren sie durch die Felsspalte hindurch, und die Rinne führte vor ihnen hinab, und was wie eine neuerliche Spalte aussah, war die Schlucht tief unten. Er floh an Fa vorüber und hastete die Rinne hinunter. Er fiel und rutschte, taumelte, sprang ungeschickt über Schnee und Steine. Dann hielt er inne, kraftlos und von Zittern geschüttelt und wimmernd wie Nil. Fa trat zu ihm. Sie legte den Arm um ihn, und er schmiegte sich hinein und blickte nach unten auf den Wasserfaden in der Schlucht. Fa sprach sanft an seinem Ohr. »Es war zuviel Oa für einen Mann.«
Er drehte sich zu ihr um und steckte den Kopf zwischen ihre Brüste. »Ich fürchtete mich.«
Eine Weile schwiegen sie. Aber die Kälte war in ihnen, und ihre Leiber bebten auseinander.
Ein wenig ruhiger, aber immer noch von der Kälte geschlagen, tasteten sie sich den steiler werdenden Hang hinab, wo ihnen die Stimme des Falls entgegenstieg. Dies trug Lok Bilder von der Höhlennische zu. Er begann auf Fa einzureden.
»Der andere ist auf der Insel. Er ist ein großer Springer. Er war auf dem Berg. Er ist bis zur Höhle gekommen und hat hinabgesehen.« »Wo ist Ha?«
»Er ist ins Wasser gefallen.«
Sie ließ eine Atemwolke hinter sich, und daraus klangen ihre Worte.
»Kein Mann fällt ins Wasser. Ha ist auf der Insel.« Sie schwieg einen Augenblick. Lok dachte so angestrengt er konnte an einen Ha, der über die Schlucht bis zum
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