Die Erben der alten Zeit - Das Amulett (Die Erben der alten Zeit - Trilogie) (German Edition)
Verzweifelt wiegte sie sich vor und zurück. Gequält presste sie die Worte hervor: »Ich sah wie die Frau auf einem Marktplatz stand. Sie war an einen Pfahl gefesselt und blutüberströmt! Sie war... Sie war tot! Sie war tot!«, schrie Tora laut auf. »Sie haben sie zu Tode gequält!« Kunar zog Tora zu sich und drückte sie fest an sich. Er wiegte sie hin und her, wie ein kleines Kind.
»Ich weiß!«, stieß er hervor. »Ich weiß! Scht. Ich weiß. Es wird alles wiede r gut. Du hast ja mich. Scht…« A uch ihm liefen die Tränen herab.
Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort. Hanna stand schweigend abseits und Charlie versuchte zu verarbeiten, was sie da soeben gehört hatte. Tora und Kunars Mutter! Tora hatte offensichtlich gesehen, wie sie zu Tode gefoltert worden war!
Nach einer Weile hatte Tora sich wieder etwas beruhigt und klammerte sich schluchzend an ihrem Bruder fest. Charlie merkte zuerst gar nicht, dass Kunar zu sprechen begonnen hatte. Seine Stimme klang fremd und hohl.
»Sie hat mich fast zwei Jahre versteckt. Und als du kamst hat sie auch dich geheim gehalten. Nocheinmal zwei Jahre. Zwei Kinder in Godheim mit grünen Augen. Auf Verweigerung steht die Todesstrafe. Sie hatte ihnen zu lange getrotzt. Vier Jahre! Die Dorfgemeinschaft hat uns geholfen, aber irgendwann hatte der dort herrschende Bärsärker Ull von uns gehört. Von der Frau, die es geschafft hatte, zwei Kinder fast vier Jahre vor Odens Helfern zu verstecken. Sie sagten, es müsse ein Exempel statuiert werden, als abschreckendes Beispiel. Ich wusste damals nicht, was das bedeutete... Dann zwangen sie mich bei ihrer Hinrichtung dabei zu sein, damit ich und alle Dorfbewohner niemals vergessen würden, was mit denen passiert, die es wagen Oden zu trotzen.« Kunars fremde, hohle Stimme klang seltsam in Charlie nach, obwohl er schon lange schwieg.
Es lag eine schwermütige Stimmung über Kunar, Tora, Charlie und Hanna. Sie saßen gemeinsam am Feuer und starrten in die Flammen. Charlie hatte Hanna in kurzen Zügen vo n den Nornen der Zeit in Gymers-See erzählt. Nun saßen sie da und diskutierten gemeinsam in gedämpftem Ton was passiert war.
»Wie war sie… unsere Mutter?« Tora starrte auf ihre Hände, die leicht zitterten. Kunar holte tief Luft.
»Sie war warmherzig und liebevoll... Und voller Angst um uns. Sie hat uns sehr geliebt.« Tora wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Warum hast du nie von ihr erzählt? Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass wir, also auch du, noch ganz klein waren, als wir hierher kamen. Ich dachte, du wärst schon vor mir auf dem Saligasterhof gewesen. Wenn ich gewusst hätte, dass du sie gekannt hast... dich erinnern kannst...« Kunar verzog schmerzhaft das Gesicht. Er seufzte.
»Ich wollte es dir und auch mir ersparen, darüber zu reden. Was da mals passierte...« E r zögerte. »Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir hätte erzählen können. Es tut mir so leid!« Tora nickte und starrte wieder auf ihre Hände.
»Ich verstehe«, sagte sie. Dann sah sie zu ihrem Bruder hoch. »Und unser Vater? Wir müssen doch einen Vater gehabt haben?« Kunar nickte nachdenklich.
»Ja, natürlich. Er war ein Seemann und fast nie zu Hause. Ich habe kaum eine Erinnerung an ihn… Ich weiß nicht einmal mehr seinen Namen. Er war zur See, als wir entdeckt wurden. Ich weiß nicht, was aus ihm wurde. Vermutlich hat man ihn ebenfalls irgendwann gefangen genommen.«
Kunars Augen schweifen in die Ferne. Charlie und Hanna saßen schweigsam und betreten neben den Geschwistern. Charlie konnte es kaum fassen. Was für ein Schock musste es für Tora gewesen sein, als sie durch die lila Norne die Wahrheit über sich und ihre Familie erfahren hatte. Sie musste in den letzten Wochen sehr gelitten haben. Charlie dachte daran, wie sich Tora im Schlaf unruhig hin und her gewälzt hatte. Alpträume hatten sie gequält und jetzt wusste sie, welcher Art Alpträume es gewesen waren. Es war furchtbar und grausam. Charlie konnte sich gut vorstellen, was Tora durchgemacht hatte.
Plötzlich setzte sie sich kerzengerade auf! Tatsächlich wusste sie sogar ganz genau, wie Tora sich gefühlt hatte! Das Blaukraut! Charlie erinnerte sich an die Panik, die Schweißausbrüche, an das Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde! Ein Schock! Ein unendlicher Schmerz, ein traumatisches Erlebnis! Das Blaukraut zeigte keine Krankheitssymptome, wie bei einer Magenverstimmung oder anderen körperlichen Erkrankungen, sondern es
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