Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Führer zu engagieren.
War dies nun noch möglich?
Charlie überlegte.
Ragnar schien sich ganz gut auszukennen …
Ob er auch in den Bergen so gut zu Wege war?
Und dann musste sie die drei Amulett-Teile vereinen … Wie das möglich sein sollte, war ihr schleierhaft.
Um das Problem zu lösen, musste sie Verbündete suchen. Zu ihrem Erstaunen stellte Charlie fest, dass sie sich bereits einige Freunde gemacht hatte. Sie dachte an die Dorfgemeinschaft am Hvergelmer von Asgârd, an die Witwe Anna mit ihren Kindern, an Kapitän Brage, obwohl sich in seinem Fall leise Zweifel regten, und an Ragnar.
Dieser hinterließ bei ihr dieselben Zweifel wie Kapitän Brage. Aber genauso wie Brage schien Ragnar für die Freiheit des Volkes zu kämpfen, und genau darum ging es.
Sie mussten nicht alle Freunde werden, solange sie nur ein gemeinsames Ziel verfolgen.
Trotzdem, weit war sie noch nicht gekommen. Oden dagegen hatte es zusätzlich geschafft, die einzelnen Nidhöggs-Familien zu einem schlagkräftigen Heer zu vereinen.
Charlie dachte nun an die Kentauren.
Konnte sie in ihnen Verbündete finden? Aber wie sollte sie sämtliche Kentauren davon überzeugen, dass sie gegen Oden kämpfen mussten?
Letztlich schienen ihr vereinzelte, ungenaue Träume als Waffe gegen Odens Pläne unzureichend, trotz der Rettung des Dorfes vor dem Feuerinferno.
Eine Waffe, die als unerwartete Gabe kommen sollte … Hatten andere Menschen nicht auch Träume?
Odens Gedanken lesen – das wäre natürlich wirklich eine gute Waffe. Aber für Telepathie war Tora zuständig. Charlies Gedanken wanderten zu den Sphinxen Dag und Natt.
Ob sie eine Sippe ihresgleichen gefunden hatten?
Sie musste Tora fragen, wie es ihnen ging.
Sphinxe waren gefährlich. Das wären Verbündete, die etwas erreichen könnten …
Nach endlosen und fruchtlosen Überlegungen fiel Charlie endlich auch in einen unruhigen Schlaf.
Sie befand sich unter Wasser.
Sie wurde von einer sanften Strömung erfasst, trieb in der Stille des Meeres umher. Sie sank.
Plötzlich fuhren brennende Schmerzen durch ihren Körper! Im Bruchteil einer Sekunde befand sie sich in der Hölle, unbeschreibliche Qualen! Dann wurde sie aus ihrem Körper gerissen …
Charlie holte tief Luft, versuchte zu verstehen.
Vor ihrem Blick versank Kapitän Brage in den Tiefen des Hvergelmers. Seine Hände waren ihm am Rücken gebunden, sein Gesicht fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, das Blut auf seinem zerrissenen Gewand färbte die Fluten rot …
Die erste Marmenille wurde von der Strömung herangetrieben. Ein heller Ausruf – voller Entzückung. Dann schwärmten sie aus allen Richtungen herbei …
Bilder zogen rasend schnell vorbei:
Brage mit Heimdall und Bure in der Lagerhalle im Hafen von Elisand. Die Tür schloss sich gerade hinter Charlie, Kunar und Tora. Bure, wie er die Fracht durchwühlt. Der Blick in drei leere Truhen und in eine vierte, viel kleinere, mit töpfernen Amphoren befüllt. Bures entzücktes Gesicht, als er die Elfenmilch darin erkannte. Heimdalls ungläubiger Blick auf Brage: Er schmuggelte Elfenmilch? Und was war in den leeren Kisten gewesen?
Weitere Bilder wechselten sich blitzschnell ab:
Heimdall und Bure bewusstlos am Boden. Brage auf der Flucht durch Godheims Wälder. Zwei Raben die sich aus einem Hinterhalt auf ihn herabstürzen. Die große Gestalt des Kapitäns umringt von Asgârds Bärsärkern. Ein harter magischer Kampf um Leben und Tod. Ein Dutzend geschlachtete Bärsärker, doch Brage letztendlich am Boden – halb bewusstlos.
Die Flut der Bilder zog immer schneller an Charlies innerem Auge vorbei:
Grausame Folter. Ods kaltes Lachen. Brages geschundener Körper, der schlaff und blutüberströmt in Ketten hängt. Zwei Bärsärker, die ihm die Hände auf den Rücken binden und ihn zur steinernen Küste Asgârds schleifen. Brage, wie er eine Klippe hinabstürzt auf dem Wasser aufschlägt und von den Fluten verschlungen wird … Er sinkt …
Charlie sah entgeistert auf das letzte Bild:
Hunderte Marmenillen schnellen um eine blutige Masse herum – beißen, zerren, reißen. Rote Fluten …
Mit einem Schrei wachte Charlie auf. Schweißgebadet.
»Er ist tot«, flüsterte sie zitternd. »Od hat Kapitän Brage gefoltert und ermordet!«
Die Stimmung war am Tiefpunkt.
Nachdem Charlie widerwillig ihren Traum erzählt hatte, sahen sich Kunar, Tora und Charlie tief erschüttert an. Es war ihre Schuld! Kapitän Brage war aufgeflogen, weil er ihnen geholfen hatte.
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