Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Wichtelfichte und wartete gebannt.
Würde sich jetzt endlich etwas tun?
»Also gut«, brummte Kunar mit angespanntem Kiefer. »Ein Kampf ... Aber mit den Stöcken! Und jammere nicht, wenn du verletzt wirst!«, sagte er und sah dabei demonstrativ zu einer Wichtelfichte direkt am Übungsplatz.
Charlie verstand, dass sie gemeint war. Sie schnaubte und ballte erneut die Fäuste.
Jammern ?
Wut stieg in Charlie hoch. Dieses Gefühl war ganz neu und strömte wie eine reinigende Kraft durch ihren Körper.
Bisher hatte sie Verständnis für Kunar gehabt. Sie war beschämt über ihr eigenes Fehlverhalten und hatte Gewissensbisse. Doch nun wurde sie zornig!
Wie konnte er sie nur für weich halten? Hatte sie sich jemals ohne triftigen Grund beklagt? Sie gehörte ja nun wirklich nicht zu der zimperlichen Sorte Mensch!
Sie stopfte sich den Seidenspinnerschwanz in die Hose, griff sich ihr Kampfholz und starrte Kunar grimmig an.
»Na los!«, knurrte sie. Kunar trat widerwillig in ihre Nähe.
»Gebt euch die Hände!«, befahl Biarn. »Und dann will ich einen fairen Kampf sehen!«
Kunar und Charlie umkreisten sich. Und dann ging es los. Die Stöcke krachten aufeinander. Angriffe und Paraden folgten in rasender Geschwindigkeit. Charlie kämpfte verbissen um ihre Ehre. Niemals hätte sie gedacht, dass solch wütende Entschlossenheit in ihr steckte. Sie kämpfte, um zu gewinnen! Für nichts anderes war in ihrem Kopf Platz. Sie vergaß alles andere um sich herum und konzentrierte sich einzig auf ihren Gegner. Ihn galt es zu bezwingen!
Beide steckten Treffern ein, doch Charlie spürte die Schläge nicht. Pures Adrenalin floss durch ihre Adern.
Und dann passierte es!
Die Erde unter ihnen begann zu beben! Tora sprang hoch. Kunar und Charlie ließen unbeirrt ihre Hölzer wirbeln, bis direkt unter ihnen der Boden aufbrach.
Was um alles in Godheims Welt geschah hier gerade?
Zeitgleich mit Biarn griff Charlie nach Kunar, der das Gleichgewicht verloren hatte und in die Erdspalte stürzte. Charlie erwischte Kunars Arm, doch er glitt wie Seife durch ihre Finger! Tora schrie verzweifelt.
Dann packte Biarn mit beiden Händen zu! Gemeinsam zogen sie Kunar ans Licht. Am Rande der Spalte blieben sie liegen – schwer atmend und wie gelähmt.
Charlie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein beängstigendes Gefühl überkam sie, als sie in die Spalte starrte, die Kunar hatte verschlingen wollen. Abgerissene Wurzeln der umliegenden Wichtelfichten schwebten in der Luft. Erde und Sand rieselten in die Tiefe. Charlie zitterte. Und dann dämmerte es ihr.
Sie selbst war es gewesen … diese unbändige Kraft …
Sie hatte Charlie plötzlich erfasst und mit sich fortgerissen …
»Ich …«, begann Charlie. »Das wollte ich nicht …«
Sie zitterte nun am ganzen Körper.
»Verzeih mir, Kunar …«, hauchte sie.
Nur Biarn schien zu verstehen, was Charlie zu sagen versuchte. Er kam auf die Beine und zog Kunar mit sich. Er räusperte sich. So hatte er sich den Kampf der beiden nicht vorgestellt.
»Mir scheint, es ist mehr als überfällig, dass du deine Kräfte beherrschen lernst, Charlie«, sagte Biarn leise. Charlie schwieg. Sie war viel zu schockiert, um etwas zu erwidern. Tora sah Charlie ungläubig an. Sie begann zu verstehen.
»Du ...«, flüsterte sie und ballte die Fäuste. Charlie stand regungslos da. Ihr Kopf schien mit Watte gefüllt zu sein, und alles um sie herum begann sich zu drehen.
Weit, weit entfernt hörte sie, wie Tora sprach.
»Wie konntest du nur! Er ist mein Bruder! Du hättest ihn fast umgebracht!«
Dann hörte sie Biarn.
Tora wetterte weiter, doch Charlie blickte nur zu Kunar. Er hatte bisher noch nichts gesagt. Er hatte sich noch nicht einmal gerührt. Seine Augen waren starr auf Charlie gerichtet. Sie sah ihn flehend an, stumm bat sie um Vergebung, um Verständnis. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis Kunar den Blick senkte und sich wortlos abwandte. Charlies Augen füllten sich mit Tränen. Sie hörte Toras aufgebrachte Worte nicht. Sie sah Kunar verzweifelt nach und wandte sich dann ebenfalls um. Ihre Beine trugen sie automatisch vorwärts. Weiter und immer weiter …
Charlie konnte sich nachher nicht mehr erinnern, wie lange sie auf diese Weise ziellos umhergeirrt war. Ihr Kopf war seltsam leer und alles schien trostlos und unfassbar aussichtslos. Dann kamen die Gedanken zurück. Ich hätte ihn beinahe umgebracht! Meinen besten Freund!
Charlies Magen drehte sich um. Während sie auf allen Vieren auf
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