Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
konnte Hanna erkennen, dass kräftige Ruderer das Schiff langsam vorwärts bewegten.
Nagelfar glitt lautlos aus dem Dunkel der Burg zum Meer hinaus, das grau und diesig vor ihnen lag.
»Oden soll das Schiff kurz nach seiner Machtübernahme aus den Überresten seiner Feinde gebaut haben«, erzählte Aslak mit Grauen in der Stimme.
Gleichzeitig versuchte er, Hanna davon abzuhalten, noch näher heranzugehen.
Doch sie sah ihn spöttisch von der Seite an.
Glaubt Aslak wirklich an diesen Unsinn? , dachte sie und schlich sich erst recht noch näher an das gespenstische Schiff heran. Aslak blieb hingegen in gebührendem Abstand stehen.
Ihre Nackenhaare sträubten sich nach ihrer Rückkehr in die Burg noch immer, wenn sie an den Anblick zurückdachte. Sie hatte Dinge gesehen, die tatsächlich menschlichen Knochen und Schädeln glichen!
Ihre spontane Idee, irgendwie an Bord des Schiffes zu gelangen, hatte sie im Schock rasch wieder verworfen.
Laut Aslak segelten Odens Helfer bei Anlässen wie dem Alvablotet-Fest stets ans Festland, um sich dort mit den Bewohnern weiblichen Geschlechts zu vergnügen. Sie kehrten erst in den frühen Morgenstunden zurück. Diejenigen Bärsärker, die zum Schutze Asgârds zurückbleiben mussten, waren dementsprechend schlecht gelaunt und alle Bediensteten hatten dies bereits zu spüren bekommen.
Dennoch wollte Hanna es heute wagen. Es war eine einmalige Gelegenheit. Für gewagte Manöver wie das, welches Hanna heute geplant hatte, war es am sichersten, wenn zumindest Oden selbst sowie Hugin, Munin und auch Od nicht in der Nähe waren.
Hanna ging nun in Odens Gemächern ihrer Arbeit nach. Sie staubte ein ledergebundenes Buch ab und griff nach einem weiteren, dicken Band. Es war schwer und es war in schillernde Schuppen gebunden, die sie an Fischhaut erinnerte.
Als Hanna das erste Mal Odens Räumlichkeiten betreten hatte, war sie sehr verwundert gewesen über das schwere, verzierte Holzregal mit all den Büchern. Immerhin hatte sie von Charlie, Tora und Kunar erfahren, dass auf Godheim niemand lesen und schreiben durfte und es sogar unter Androhung von Kerker oder gar Tod verboten war, auch nur einzelne Schriftzeichen in den Sand zu malen.
Es gab laut Tora in ganz Vanaheim und Godheim kein einziges Buch, was ja auch durchaus stimmen konnte. Auf Asgârd gab es jedenfalls welche. Hanna vermutete, dass Oden die letzten Exemplare besaß. Sie mussten sehr, sehr alt sein, waren aber durchaus noch gut erhalten. Hanna blätterte mehrmals darin herum – natürlich nur dann, wenn weder Oden noch Hugin und Munin da waren.
Es waren allesamt Runentexte. Da Hanna Charlies Bücher über Runen und ihre Bedeutung gelesen hatte, fiel ihr das Entziffern der Texte von Mal zu Mal leichter. Meist ging es um Magie und ihre Anwendung im Alltag – nichts, womit sie wirklich etwas anfangen konnte, denn sie besaß keine magischen Fähigkeiten. Aber die Tatsache, dass es hier Bücher gab, fand sie schon sehr merkwürdig.
Hanna stellte das abgestaubte Buch mit dem Fischeinband wieder an seinen Platz zurück. Heute hatte sie keine Zeit zum Lesen. Obwohl sie sich beeilte, ging sie doch gewissenhaft vor, denn nichts sollte Odens Aufmerksamkeit unnötig auf sie lenken. Er interessierte sich sowieso schon viel zu viel für sie, seit er erfahren hatte, dass sie von der Erde stammte.
Odens Wissbegier nach allem, was Mannaheim betraf, beunruhigte Hanna zutiefst. Sie erinnerte sich gut an den Tag vor mehr als zwei Monaten, als Oden sie hatte rufen lassen und peinlich genau über ihre Beziehung zu Charlie ausgefragt hatte. Ausgepresst wie eine Zitrone , dachte sie.
Im Nachhinein war ihr äußerst unwohl zu Mute, und sie wurde das Gefühl nicht los, einen Fehler gemacht zu haben. Weshalb, war ihr nicht klar, denn was sollte daran gefährlich sein? Immerhin lenkte es Oden effektiv von ihr selbst ab und – was noch viel wichtiger war – es ließ Oden vergessen, sie nach weiteren Personen zu fragen, die sie in Vanaheim kannte. Offensichtlich hatte er ihr die Lüge abgekauft, denn er ließ seitdem nach einem älteren Magier fahnden. Hanna hätte nur zu gerne gewusst, wonach er eigentlich Ausschau hielt. Aber so sehr sie sich auch bemühte, Gespräche der Bärsärker zu belauschen, sie blieb erfolglos.
Oden rief sie nun fast jedes Mal zu sich, wenn er sich in der Burg befand, um sie über Mannaheim auszufragen. Hanna antwortete inzwischen so ungenau wie möglich. Oft tat sie so, als ob sie die Antwort nicht wüsste,
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