Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
was Oden zwar unzufrieden machte, aber bei ihr weniger Unbehagen hinterließ.
Seit einigen Tagen hatte sie einen furchtbaren Verdacht: Hugin und Munin waren gerade auf Erkundungsflug und Hanna hatte ihre allmorgendliche Arbeit in Odens Gemächern beendet. Sie war gerade dabei, das Zimmer zu verlassen. Kurz bevor die schwere Holztür hinter ihr ins Schloss fiel, sah sie es: Aus dem Nichts erschien eine dichte Nebelwand mitten in Odens Thronzimmer! Nur Sekunden später tauchte Oden auf, ebenfalls aus dem Nichts! Seine Kleidung war in Unordnung und sein schwarzer Hut saß schief auf seinem Kopf. Schneeflocken schmolzen auf der breiten, schwarzen Krempe. Hanna entfernte sich unbemerkt. Äußerst bestürzt eilte sie den langen Gang aus Odens Turm hinunter.
Oden konnte durch den Nebel gehen! Aber Charlie hatte doch erklärt, dass niemand außer ihr in den letzten Jahrtausenden durch den Nebel gegangen war! Selbst Gymer saß hier fest!
Hanna gelangte zu dem Schluss, dass Charlie etwas besessen haben musste, das die Nebeltore öffnete. Und das besaß jetzt Oden! Es musste der Grund für Charlies Tod und für ihre eigene Gefangenschaft sein.
Etwas, das Oden ermöglichte, zur Erde zu reisen!
Hanna war schockiert, als ihr klar wurde, dass Oden von ihr nur deshalb so viel über die Erde wissen wollte, weil er sie nun regelmäßig besuchte. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was Oden auf ihrem Heimatplaneten für Unheil anstellen würde. Denn dass Oden nicht nur auf einen heiteren Auslandsurlaub aus war, darauf hätte sie ihren Phönixstein verwettet – wenn sie ihn denn noch gehabt hätte. Oden hatte Biarns Geschenk natürlich behalten und Hanna machte sich auch keine Illusionen darüber, ihren hübschen Stein je wiederzusehen. Aber wie unwichtig erschien ihr dieser jetzt!
Sie musste etwas unternehmen! Sie konnte Schweden doch nicht einfach Oden überlassen!
Auch wenn es nicht ihre Schuld war, dass Oden nun wahrscheinlich zur Erde reiste, so fühlte sich Hanna doch verantwortlich. Sie hatte ihm so bereitwillig Auskunft gegeben – war sie doch so froh darüber gewesen, nicht mehr über ihren Aufenthalt in Vanaheim ausgehorcht zu werden. Aber nun wurde sie das Gefühl nicht los, ihre Heimat verraten zu haben. Und genau deshalb war Hanna zur Überzeugung gelangt, dass sie etwas unternehmen musste – und das so schnell wie möglich!
Sie hatte schon seit längerem vor, jenen dunklen Teil Asgârds zu untersuchen, der für normale Bedienstete tabu war. Laut Aslak führte ein Gang vom Südturm zu mehreren verbotenen Bereichen. Unter anderem sollte es dort zu den Ställen gehen, wo Hunderte der schönsten Pegasuspferde für die Bärsärker Asgârds bereitstanden. Außer mit einem Schiff war ein Flugtier die einzige Möglichkeit, Asgârd zu verlassen.
Obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, in welcher Richtung Gymers Berg lag, war Hanna entschlossen, Biarn zu finden und ihm von Odens Machenschaften zu berichten. Wenn Biarn ihr nicht irgendwie helfen konnte, die Erde zu retten, dann wusste sie auch keinen Ausweg mehr. Biarn wusste viel mehr als er zugab – das hatte sie immer schon vermutet – und er schien Kontakte zu haben.
Und heute sah Hanna ihre Chance! Asgârd war kaum bewacht. Laut Aslak befanden sich die meisten der verbliebenen Bärsärker schon jetzt unter dem Einfluss von Met. Einen besseren Tag für eine Flucht würde es lange nicht mehr geben.
Hanna befand sich nun auf dem direkten Weg zum Südflügel. Sie hatte zuvor in der Küche einige Worte mit dem Personal und auch mit Aslak gewechselt. So ganz nebenbei hatte sie einen Kanten Brot und ein wenig Wurst in den Rocktaschen unter ihrer Schürze verschwinden lassen.
Reiseproviant für den Fall, dass sie erfolgreich sein würde.
Nun eilte sie samt Putzzeug die langen, dunklen Gänge entlang und wäre kurz vor dem Ziel fast mit Aslak zusammengestoßen, der ihr plötzlich den Weg versperrte.
»Verflucht!«, fauchte sie. »Musst du mich so erschrecken?«
Aslak errötete. Er versuchte, seine Unsicherheit zu verbergen. Doch er war nicht besonders gut darin.
»Ich…«, begann er hastig und holte dann tief Luft. Er war kein sehr mutiger junger Mann, war es noch nie gewesen. Er erledigte gewissenhaft seine Arbeit in der Küche und im Garten und hoffte täglich, dass niemand Notiz von ihm nahm.
»Was tust du hier?«, fuhr Hanna ihn herrisch an.
»Das … das könnte ich dich wohl fragen!«, gab er empört und etwas gekränkt zurück. Er mochte Hanna.
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