Die Erben Der Flamme
Rauch geschwängerte Luft ein. Es war eine Frage der Zeit, bis alles in sich zusammenfallen würde.
»Bitte«, flehte Lee und zog sanft an Vrans Schulter.
»Ich … ich sehe das Tor, Lee.« Vran atmete tief ein. Ihre Mundwinkel zogen sich hoch und ihre Augen gingen an Lee vorbei.
Zu oft hatte Lee Vran von dem Mythos des Ringtores erzählen hören. Unter all den verbotenen Religionen in Ab’Nahrim war der Glauben an die Ringwächter am meisten verbreitet. Nach dem Tod würden demnach alle Lebewesen von göttlichen Wesen durch ein rundes Tor aus Licht in eine Zwischenwelt geführt werden. Dort würde man all seine verstorbenen Freunde und Verwandten wiedersehen, bis man sich entschied, die heilige Welt durch ein anderes Ringtor wieder zu verlassen, um sodann auf der nächsten Welt wiedergeboren zu werden.
Lee fing Vrans Blick auf. »Brega hat dich vor ihnen beschützt«, sagte sie. »Aber nun haben sie ihn erwischt. Sie jagen dich, Lee. Du musst fliehen, sie dürfen dich nicht bekommen.«
Ihre Ziehmutter schenkte ihr ein Lächeln. »Vergiss nicht, Brega liebt dich. Egal, was passieren wird, egal, was man dir sagt, Brega wird dich immer lieben - so wie ich.«
Vrans Augen schlossen sich. Lee wartete. Und wartete. Doch sie öffneten sich nicht mehr. Dann brach es aus Lee heraus. Alles Leid der Welt schien sich aus ihr befreien zu wollen. Sie ignorierte, wie ihr der Rauch im Hals brannte und strich über Vrans Gesicht. Wieder und wieder. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
»Mutter …«, flüsterte Lee, als ob es sie nochmals wecken würde, und presste Vran an sich. All das Geschehen des Tages ve rblasste. Sie hatte einen geliebten Menschen verloren.
Für immer.
Das Bersten von Stein und Holz brachte Lee ins Jetzt zurück. Sie wandte den Kopf zur Decke. Das Obergeschoss hatte sich ein weiteres Stück abgesenkt. Lee gab Vran einen Kuss auf die Stirn und ließ ihre Mutter sanft zu Boden gleiten. Mit einem Schluchzer riss sie sich von dem Anblick los und überwand sich, Vran zurückzulassen. Sie musste hier heraus kommen. Für Vran.
Sie blinzelte die Tränen weg und kämpfte sich einen Weg durch die Rauchschwaden. Das Tuch lag wieder um ihre Nase und Mund, doch war es nutzlos geworden. Schwerfällig kletterte Lee wieder in den Gang vor der Nische und tastete sich zum Ausgangstor vor. Erneut fing sie an zu weinen. Mehr noch als die Hitze und der Rauch drückte der Schmerz auf ihre Seele. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie endlich den von Feuer umschlossenen Torbogen erblickte.
»Fast …«, sprach sie leise zu sich selbst, um sich Mut zu machen.
Mit letzter Kraft eilte Lee auf den Ausgang zu. Sie konnte durch die Öffnung bereits außenstehende Tempelbauten erkennen.
Dann brach das Chaos herein. Lee schlitterte kurz vor der einstürzenden Decke zu Boden. Der Krach war ohrenbetäubend und lähmte ihre Gedanken. Sie würgte und spuckte, aufgewirbelter Staub und Qualm drangen in ihre Atemwege. Sekunden dauerte es, bis sie wieder einen klaren Blick fassen konnte. Direkt vor ihr lag wie ein gelandeter Feuerball Holz und Schutt auf einen brennenden Haufen. Rückwärts kroch sie von dem Inferno vor ihren Füßen davon. Schwerlich kam sie wieder auf die Beine. Vor ihr türmte sich die eingebrochene Decke und der Rest des Tores gleich einer Barriere auf. Durch Ritzen im Schutt sah Lee, wie der Rauch durch das Loch im Obergeschoss ins Freie zog. Nie würde sie die glühenden Steinbrocken von der Stelle bewegen können. Wie Zungen leckten die Flammen von der zerstörten Decke herab und hüllten den verschütteten Ausgang zusätzlich ein.
Sie war gefangen. Lee schrie auf, doch war es nur ein Krächzen. Sie hatte inzwischen alle Kraft verloren. Ihr wurde schwarz vor Augen, doch war es nicht der Rauch, der ihr die Sicht raubte. Wie Wellen rauschten ihre Gefühle durch ihren Körper: Wut, Angst und Hoffnungslosigkeit. Sie vereinten sich zu einem Strudel, der ihr Innerstes zu verschlingen drohte. Ihr Vater war gefangen worden, ihre Mutter tot und gleich würde das Feuer ihr Leben beenden. Welcher Mensch sollte all dies aushalten? Lee grub die Fingernägel in die Handinnenseiten, so sehr, dass sie sich selbst ins Fleisch schnitt.
Plötzlich verspürte Lee eine innere Hitze. Das Gefühl war nicht neu, ihr war, als ob sie an der Schwelle zu einem gewaltigen Feuersturm stehen würde. Lediglich ein Schritt trennte sie vor der monströsen Kraft. Jene heimliche Stärke hatte sie bereits zuvor in ihrem Leben verspürt, wie
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