Die Erben der Nacht 04 Dracas
hinaufzusteigen und in jede Loge zu spähen, die die Dracas angemietet hatten. Außerdem blieben sie so näher am Ausgang, was in diesem verwinkelt gebauten Theater von Vorteil war, falls sie sich entschieden, zum Palais zurückzukehren.
»Das Gedränge ist noch schlimmer als im Burgtheater«, bestätigte Franz Leopold mit einem Kopfschütteln.
Es fehlte noch eine Viertelstunde bis zum Beginn der Vorstellung, als die drei Vampire den Zuschauerraum betraten.
DER GROSSE BRAND
»Wo bleiben nur Latona und Mr Stoker?«, fragte Philipp nun schon zum fünften Mal, worauf ihn seine Schwester auch ungnädig hinwies.
»Weshalb sind wir überhaupt so früh gefahren?«, sagte er missmutig. »Kein Mensch der guten Gesellschaft kommt bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung ins Theater!«
»Ich geh hinunter und sehe nach, ob sie inzwischen vorgefahren sind. Vielleicht haben sie sich in den vielen Gängen verlaufen und finden die Loge nicht«, überlegte er.
Clara spottete. »Ja, Mr Stoker macht mir einen recht verwirrten Eindruck. Er ist ein alter Mann von mehr als dreißig Jahren. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich auf der Suche nach der Theaterloge
verirrte.« Sie sprang auf. »Ich werde nach ihnen suchen. Ich habe eh großen Durst, da kann ich noch ein Glas Limonade trinken. Großmutter, möchtest du auch etwas?«
Die alte Baronin erhob sich, um ihre Enkelin zu begleiten. »Du bleibst hier, Philipp, und begrüßt unsere Gäste, falls sie von der anderen Seite her kommen sollten.«
Clara kicherte vergnügt, während Philipp schmollend in der Loge im ersten Rang zurückblieb. Die beiden Damen von Schey holten sich im Foyer ihre Limonade und schlenderten Richtung Ausgang, durch den noch immer Besucher hereinströmten. Latona und die beiden Herren waren allerdings nicht dabei.
Eine Viertelstunde, bevor sich der Vorhang heben sollte, begannen die Bühnenarbeiter mit den letzten Vorbereitungen für die Vorstellung. Der für die Beleuchtung zuständige Mitarbeiter legte den Hebel um, der Gas in die Soffittenkästen strömen ließ, und zündete die Funken. Die Lampen sprangen bis auf eine an und tauchten die noch leere Bühne in helles Licht. Vom Zuschauerraum konnte man den Schein durch den geschlossenen Vorhang erahnen. Der Bühnenarbeiter drehte das Gas noch ein wenig weiter auf, um die letzte Soffitte zu zünden. Doch statt ihren Dienst aufzunehmen, zerbarst sie mit einem Knall. Eine Flamme schoss in die Höhe. In Sekundenschnelle brannten die nahen Kulissen, dann griff das Feuer auf den inneren Vorhang über.
Die Arbeiter starrten entsetzt auf die Flammen. Mit ein paar Decken unternahmen sie einen halbherzigen Löschversuch, doch ihnen war schnell klar, dass dieses Feuer so nicht mehr erstickt werden konnte. Nein, ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich in Sicherheit zu bringen. Sie stürzten über die Bühne zum Hinterausgang, rissen die Tür auf und rannten ins Freie. Die Tür ließen sie offen.
Bislang hatten die Zuschauer im Parkett und in den Logen noch nicht mitbekommen, welche Katastrophe sich hinter dem schweren Vorhang anbahnte. Nur die drei jungen Vampire starrten zur Bühne.
»Was war das?«, rief Alisa.
»Das hört sich nicht gut an. Gar nicht gut«, meinte Franz Leopold.
Das Feuer gierte nach frischer Luft, die es am Leben hielt und nährte. Einer Sturmböe gleich sog es den Luftstrom durch die offene Hintertür an. Mit einem Fauchen schlugen die Flammen fast bis zur Decke und hatten kurz darauf den äußeren Vorhang erfasst, der das Feuer bislang vom Publikum trennte. Ein Schrei des Entsetzens stieg zur Decke empor, erstickt vom Brüllen des Feuers, das sich nun gierig über das Theater hermachte.
»Bei allen Dämonen der Hölle«, stieß Alisa entsetzt aus. Sie wandte sich um und sah in Hunderte von vor Schrecken starre Gesichter, die das tanzende Feuer in Fratzen verwandelte. Ihr Blick suchte den ihres Bruders. Da war er, in einer Loge im ersten Rang mit Sören und Chiara und den beiden Pyras.
»Springt!«, schrie Alisa und gestikulierte wild.
Franz Leopold wedelte mit den Armen. »Nein!«, brüllte er. »Zum Balkon. Lauft zum Balkon und springt von dort ins Freie. Nicht hier herein! Die Türen werden gleich versperrt sein!«
Als die Menschen begriffen, was um sie herum geschah, schrien sie in Todesangst auf. Sie sprangen von ihren Sitzen und stürmten auf die Türen zu. Die ersten stolperten und wurden zu Boden gedrückt. Andere stiegen über sie hinweg, traten auf die
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