Die Erben der Nacht 04 Dracas
am Boden Liegenden oder fielen ebenfalls. Der Lärm der Schreie ging im Fauchen des Feuers unter.
Alisa sah, wie ihr Bruder ihr zuwinkte und dann hinter den anderen durch die Logentür ihren Blicken entschwand. Er hatte ihr zugelächelt!
»Tammo begreift gar nicht, in was für einer Lage wir uns befinden«, rief sie. »Dieser Kindskopf! Das ist kein Spaß. So ein Feuer kann auch für einen Vampir zu einer tödlichen Falle werden - gar nicht zu reden von den vielen Menschen, die diese Nacht nicht überleben werden.«
Entsetzt ließ sie ihren Blick über den Zuschauerraum schweifen. Der Kampf ums Überleben hatte begonnen, doch wie viele würden es schaffen? Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was sich dort draußen in den Treppen und Gängen abspielte.
Da ging das Licht aus. Irgendjemand hatte vermutlich das Gas abgedreht, um das Feuer nicht noch mehr anzuheizen. Damit erloschen aber auch im gesamten Theater die einzigen Wegweiser, die die Menschen in ihrer Panik nach draußen hätten leiten können. Nun irrten sie ziellos durch die Finsternis. Nur der Zuschauerraum war vom tobenden Feuer erleuchtet.
»Alisa, wir müssen raus hier!« Franz Leopold nahm sie beim Arm. »Tammo und die anderen haben schon begriffen, was sie tun müssen. Es waren ja auch einige Dracas in den benachbarten Logen. Sie werden die Erben über den Balkon ins Freie schaffen. Von dort ist es nur noch ein Sprung von fünf oder sechs Metern. Nun sollten auch wir zusehen, dass wir rauskommen, langsam wird es hier drin wirklich brenzlig.«
Sie sahen zur Decke hoch, über die die Flammen bereits gierig leckten. Der ganze Bühnentrakt war nur noch ein riesiger lodernder Feuerball. Sie versuchten, zum Ausgang vorzudringen, doch das war keine einfache Aufgabe. Die Menschen drängten verzweifelt in alle Richtungen, der Qualm wurde immer dichter und nahm ihnen die Sicht und - noch schlimmer - die Luft zum Atmen. Selbst die Vampire konnten das Brennen auf ihrer Haut spüren. Wie musste sich die heiße Luft erst in der Lunge anfühlen? Keuchend und hustend gingen die Theaterbesucher in die Knie und wurden von den Nachdrängenden zu Boden gedrückt. Wenigstens würden sie es nicht mehr spüren, wenn die Flammen kamen und ihre Körper zu Asche verbrannten. Dass es für diese Menschen Rettung geben könnte, daran glaubte Alisa nicht.
»Mach dir lieber Gedanken darüber, wie wir selbst hier rauskommen«, schnitt Luciano ihre bedauernden Worte ab. »Mein Frack beginnt schon vor Hitze zu qualmen. Wenn es noch heißer wird, fangen unsere Kleider Feuer.« Er warf einen besorgten Blick auf Alisa, deren Kleid sie innerhalb eines Wimpernschlags in eine menschengroße Fackel verwandeln würde. Hilfesuchend sahen sich die drei um. Sie waren in einem Meer von panischen Menschen gefangen, die die Türen und Gänge verstopften und nicht wussten, in welche Richtung sie fliehen sollten. Draußen war es finster und alles füllte sich mit Rauch. Außerdem gingen alle Türen, die
ins Freie führten, nach innen auf, sodass sie den nachdrängenden Menschen zur tödlichen Falle wurden.
»Wir werden uns nicht verirren«, sagte Luciano zuversichtlich. »Wir haben bei den Pyras gelernt, die genaue Position, an der wir uns befinden, zu erspüren, und jeden Weg, den wir einmal gegangen sind, auch mit geschlossenen Augen wiederzufinden.«
»Und was nützt dir das jetzt? Willst du über die Köpfe der Menschen hinweglaufen und die geschlossenen Türen sprengen, gegen die sie mit Macht anbranden?«, herrschte ihn Franz Leopold an.
»Nein, nicht laufen, fliegen!«, drängte Alisa. »Wir haben uns lange nicht mehr verwandelt. Wir müssen es versuchen, auch ohne Ivy, die uns beispringen könnte.« Sie sahen einander an.
»Gut, Fledermäuse«, sagte Franz Leopold und forschte in Lucianos Miene nach Zweifeln, die alles in Gefahr bringen konnten. Schon einmal war er mitten in einer Verwandlung stecken geblieben. Nun aber nickte er entschlossen.
»Wir fliegen zu den Logen im ersten Rang hoch, dann hinaus ins Foyer und auf den Balkon.«
Sie nahmen sich bei den Händen, um ihre Kräfte zu teilen. Ein brennender Balken krachte herunter und setzte die Sitze neben ihnen in Brand. Sie rückten ein Stück ab und begannen noch einmal. »Du zuerst, Luciano«, drängte Alisa und der Nosferas widersprach nicht. Es war einfach keine Zeit, darüber nachzudenken, ob sich seine Kräfte ausreichend entwickelt hatten. Sie umfassten noch einmal ihre Hände, schlossen die Augen und konzentrierten
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