Die Erben der Nacht 04 Dracas
gern, dass sie ihm Kummer ersparen wollte. Allerdings nicht gern genug, um einen Antrag von ihm anzunehmen, selbst wenn seine Eltern und Großeltern nichts dagegen einwenden würden und Bram es mit Freude sähe. Dann wäre er seine Verantwortung los, die er sich so leichtfertig aufgebürdet hatte. Vor allem seine Frau Florence wäre sicher erleichtert. Nicht dass sie Latona schlecht behandelt hätte. Sie war stets höflich zu ihr gewesen. Dennoch konnte das Mädchen spüren, dass Mrs Stoker nicht glücklich darüber war, unverhofft ein fast erwachsenes Mündel im Haus zu haben.
Latona war tief in Gedanken durch einen Saal gegangen, der offensichtlich für ärmere männliche Patienten bestimmt war, als sie plötzlich dachte, ihren Namen gehört zu haben. Sie hielt inne. Das musste eine Täuschung sein.
Nein, da war es wieder. Eine leise, raue Stimme. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. Ganz langsam drehte sie sich um und starrte in ein ihr völlig fremdes Gesicht. Und dennoch überkam sie eine Ahnung, dass sie diesen Mann kannte und ihm schon näher gewesen war, als sie sich im Augenblick vorstellen konnte.
»Latona, willst du nicht ein wenig näher kommen, dass wir uns unterhalten können?«, sagte er auf Englisch mit einem seltsamen Akzent.
Er war von unbestimmtem Alter, das Gesicht hager, das lange, ungepflegte Haar fast weiß. Sein intensiver Blick ging ihr durch und durch. Sie hatte das beklemmende Gefühl, nackt vor ihm zu stehen. Ja, als ob er selbst ihre tiefsten Geheimnisse sehen könnte.
»Ja bitte? Sprechen Sie«, sagte sie etwas pikiert. »Kennen wir uns denn?«
»Ich kenne dich, ja, und ich kannte auch deinen Onkel Carmelo. Er kam mir näher, als mir lieb sein konnte!« Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über das magere Gesicht. Für einen Moment dachte Latona, er müsse ein Vampir sein, verwarf diesen Gedanken aber sofort. Nein, es war helllichter Tag. Das war nicht möglich.
»Komm näher«, forderte er sie noch einmal auf. »Wir wollen doch nicht den ganzen Krankensaal unterhalten.«
Zögernd folgte sie, blieb aber so weit weg, dass er nicht nach ihr
greifen konnte. Sie wusste auch nicht, warum er ihr so unheimlich war.
»Aber ich weiß es«, sagte er, als könne er ihre Gedanken lesen. Nun, so schwer war es sicher nicht, ihr Unbehagen in ihrer Miene zu erkennen, beruhigte sich Latona. Sie atmete einmal tief ein und dann wieder aus.
»Dann sagen Sie es mir!« Herausfordernd hob sie das Kinn.
»Dein Onkel und du, ihr habt bei euren Reisen eure Sinne geschärft. Und dennoch weigert sich dein Geist, mich zu erkennen. Es wundert mich, dass du den Zusammenhang nicht längst bemerkt hast.«
Latona beugte sich ein wenig vor und studierte seine Gesichtszüge. Nein, sie waren ihr fremd. Und doch. Eine Saite klang in ihr. Es war das Haar. Das feine Silber in seinem Haar, für das er viel zu jung erschien.
»Wie heißen Sie?«
»Seymour«, sagte er schlicht.
Latona überlegte. »Den einzigen Seymour, den ich kenne …« Sie keuchte.
»Sprich den Satz ruhig zu Ende«, sagte er leise.
»Ist ein Wolf«, stieß Latona hervor und pfiff durch die Zähne. »Ivys Wolf. Das ist es. Ihre Gesichtszüge und Ihr Haar erinnern mich an Ivy.« Etwas fiel ihr ein. Wie hatte Dracula ihn genannt? »Ivys Bruder!«
Seymour nickte. »Ja, das ist richtig. Ich bin ihr Bruder, doch anders als bei ihr ist mein Körper mit den Jahren gealtert, wenn auch nicht so rasch wie der eines Menschen.«
»Dann ist Ivy kein Vampir reinen Blutes? Malcolm hat mir die Unterschiede erklärt.«
Seymour schüttelte den Kopf. »Nein, sie war vor einhundert Jahren ein vierzehnjähriges Mädchen und ich ihr Bruder, auch wenn ich uns nicht als normale Kinder bezeichnen würde, denn wir wurden von der mächtigen Druidin Tara geboren, in deren Adern das magische Blut der alten Kelten fließt.«
»Wenn Ivy zum Vampir wurde, was bist du dann? Ein Werwolf?«
Seymour nickte. »Genau, ein Werwolf, den du bisher nur in seiner Wolfsgestalt kennengelernt hast.«
»Carmelo hat dich in Rom mit seiner silbernen Klinge verletzt«, fiel Latona ein.
»Es bedurfte der magischen Heilkünste unserer Mutter, mich zu retten und die Wunde heilen zu lassen.«
Latona warf ihm einen reumütigen Blick zu. Seymour schien ihr aber nicht zu grollen.
»Und nun bist du wieder verletzt«, stellte sie fest. »Das war nicht Dracula. Als du davonliefst, warst du unversehrt.«
Seymour zog die Lippe hoch, als wolle er knurren. »Ivy hat mich weggeschickt.
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