Die Erben der Nacht 04 Dracas
einen großen Teil der Abendsegler fanden
sich hier geeignete Ruheplätze. Für die Vampire waren sie nicht ideal. Sie flogen hinunter ins Kirchenschiff. Die bunten Fenster des Chors begannen bereits im zunehmenden Licht zu erglühen.
Gibt es hier eine Krypta? Das wäre vielleicht der rechte Platz, regte Luciano an, der sich mit Kirchen sicher am besten auskannte. Alisa entdeckte den Zugang, auf den sie erleichtert zuflogen. Schon spürten sie, wie bleierne Müdigkeit nach ihnen griff. Sie flogen in die Krypta und landeten auf einem riesenhaften, prächtigen Sarkophag, in dem - der Inschrift nach - die Gebeine der ungarischen Könige des Mittelalters ruhten. Rasch vollzogen sie die Wandlung. Ihnen blieben nur noch Augenblicke, sich eine Nische zu suchen, in der sie sich ausstrecken konnten, dann übermannte sie der Schlaf. Alisas letzter Gedanke war die Hoffnung, dass niemand während des Tages in die Krypta heruntersteigen würde.
Philipp ging es heute sichtlich besser. Sein Blick war klarer. Vermutlich hatten die Ärzte seine Morphiumdosis gesenkt. Einige der kleineren Brandwunden begannen bereits zu verkrusten. Die Brüche würden allerdings noch eine Weile brauchen, bis sie verheilten.
Latona hielt ihr Versprechen und verbrachte Stunden in Philipps Gesellschaft. Was sollte sie auch sonst tun, um sich von ihren Gedanken abzulenken, die immer und immer wieder nach Osten wanderten. Wie weit die Reisenden wohl schon vorangekommen waren? Fuhren sie noch die Donau entlang bis zu dem Flussknie, unterhalb dessen die Stadt Budapest lag? Oder hatten sie gar schon die weiten Steppen der Puszta erreicht, die sich im Osten von der Donau über die Theiß und weiter fast bis zu den ersten Bergen Siebenbürgens erstreckte? Wie schnell fuhr der Zug? Wie viele Tage saßen sie in ihrem Abteil, lauschten dem gleichmäßigen Lied der Schienen, das sie schläfrig stimmen mochte, während die unbekannte Gefahr, die an ihrem Ziel auf sie lauerte, sie wach hielt?
Wenn Latona nicht bei Philipp war oder die Mahlzeiten mit der Familie Schey teilte, zog sie sich in die Bibliothek zurück und brütete über Landkarten, um eine Vorstellung zu bekommen, welchen Weg Bram und die Professoren nehmen konnten. Die Bahnstrecke
führte von Wien eine ganze Strecke die Donau entlang, verließ sie dann, um sich nach Südosten zu wenden, und traf in Budapest wieder auf den Strom, der nun direkt nach Süden floss. Die Bahnlinie aber verlief weiter nach Osten bis zur Theiß und teilte sich dann nach der großen Bücke über den Fluss. Vermutlich würden sie der Bahnstrecke nach Südosten folgen und dann am Tor nach Siebenbürgen in Arad noch einmal anhalten. Von dort folgten die Gleise dem Mureş bis hinter Alba Iulia, das auch Weißenburg genannt wurde. Und dann? Weiter über Mediasch und Schäßburg nach Kronstadt am Fuß der Karpaten?
Und die Vampire? Flogen sie als Fledermäuse über das weite Land hinweg? Wie schnell konnten sie auf diese Weise vorwärtskommen? Schneller als die Menschen in der Eisenbahn? Vermutlich. Sie waren nicht an den Verlauf der Schienen gebunden. Obgleich die Fledermäuse sich bei Tag ja ein Versteck suchen mussten und nur nachts reisen konnten, der Zug dagegen unbeirrbar Tag und Nacht gen Osten stampfte.
Wieder ließ sie sich ziellos durch die Gänge und Säle treiben, nachdem sie sich von Philipp verabschiedet hatte. Die ersten Opfer des Theaterbrands, die leichte Rauchvergiftungen oder nur harmlose Brand- und Schnittwunden davongetragen hatten, wurden bereits entlassen. Latona bemerkte einige leere Betten. Allerdings waren manche der Betten auch von besonders schweren Verbrennungsfällen belegt gewesen und sie ahnte, dass der Weg dieser Patienten direkt auf den Währinger Friedhof geführt hatte.
Philipp dagegen würde in ein paar Tagen vielleicht schon nach Hause zurückkehren können, um sich vom Arzt der Familie und einer privaten Krankenschwester betreuen zu lassen.
Vielleicht sollte sie ein wenig auf Abstand zu ihm gehen? Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass er kurz davor war, sich ihr zu erklären. Natürlich konnte sie darauf hoffen, dass die Scheys diese Verbindung nicht zulassen würden. Schließlich war sie eine mittellose Waise, deren Mutter Italienerin und deren Vater Engländer gewesen war. Noch dazu war sie keine Jüdin. Aber selbst das war bei den Familien an der Ringstraße heutzutage meist kein Hindernis mehr. Nein, darauf wollte sie sich nicht verlassen. Außerdem
mochte sie Philipp zumindest so
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