Die Erben der Nacht 04 Dracas
werden. Am besten, wir begegnen überhaupt niemandem.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Mir wird schon was einfallen«, meinte sie zuversichtlich und verabschiedete sich von dem Werwolf, der erschöpft in seine Kissen zurücksank.
Im Palais Coburg herrschte helle Aufregung.
»Wo ist meine Schwester Alisa?«, brüllte Tammo außer sich. »Sie ist verschwunden und unser Servient Hindrik ebenfalls.«
»Und außerdem fehlen Ivy und Seymour«, fügte Mervyn hinzu.
Chiara berichtete, dass Luciano fehlte, und ließ es zu, dass Sören vor aller Augen den Arm tröstend um ihre Schultern legte.
»Und Leo hat auch keiner mehr gesehen, seit wir zum Theater aufgebrochen sind«, meinte Rowena.
»Das stimmt nicht«, verbesserte Tammo. »Er war dort. Zusammen mit Alisa und Luciano. Ich habe sie unten im Parkett gesehen, als das Feuer ausbrach. Alisa hat uns in der Loge entdeckt und gerufen, wir sollten herunterspringen, doch ich machte ihr ein Zeichen, dass es besser wäre, durch das Foyer und über den Balkon zu fliehen. Dann bin ich Joanne und Fernand hinterher.«
»Sind sie euch gefolgt?«, drängte Sören.
Tammo hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht darauf geachtet. Es war so ein Durcheinander. Die vielen Leute, die aus dem Theater drängten, und dann draußen die Schaulustigen, die berittene Polizei und die Feuerwehr. Wir haben uns alle aus den Augen verloren. Ich bin mit Joanne zum Palais zurück. Fernand haben wir erst hier wieder getroffen.«
Der Pyras nickte. »Ja, ich war mit Rowena und Mervyn zusammen. Einer der Dracas hat uns begleitet.«
So waren sie von Ruß beschmutzt und ein wenig verwirrt nach und nach im Palais Coburg eingetroffen. Zuerst war der aufregende Abend das einzige Gesprächsthema, doch irgendwann bemerkten die Erben, dass einige von ihnen fehlten. Die Dracas beruhigten sie. Sie hätten ihre Unreinen losgeschickt, die verirrten Erben einzusammeln und zurückzubringen, doch nun wurde es langsam Tag und die Servienten waren ausnahmslos zum Palais zurückgekehrt, ohne auch nur eine Nachricht über die Vermissten mitzubringen. Die Erben und ihre Servienten versammelten sich in der Galerie und machten ihrer Sorge und ihrem Unmut Luft, bis Baron Maximilian erschien.
»Ruhe!«, donnerte der Baron, als immer mehr der Erben durcheinanderriefen.
»Wie viele werden vermisst?«
Marie Christine trat vor und fasste zusammen: »Der Dracas Franz Leopold, die Vamalia Alisa und ihr Servient Hindrik, der Nosferas Luciano und die Lycana Ivy mit ihrem Wolf.«
Der Baron wirkte ein wenig verunsichert. Er sah sich um, als erwarte er die Baronesse hinter sich zu finden, doch auch sie glänzte durch Abwesenheit.
»Wir alle sind über den tragischen Verlauf dieser Nacht schockiert.
Es sollte euer erster Auftritt in der Gesellschaft werden. Dass so etwas passieren würde, hat keiner geahnt, und es trägt auch niemand Schuld daran. Genauso wenig war es uns möglich, für solch ein unwahrscheinliches Ereignis Vorsorge zu tragen. Sobald uns klar wurde, dass ihr nicht vollzählig zum Palais zurückgekehrt seid, haben wir unsere Unreinen ausgeschickt, die Vermissten zu suchen. Leider kamen diese nun zurück, ohne auch nur die kleinste Spur entdeckt zu haben.«
Er schluckte. Für einen Wimpernschlag huschte der Ausdruck von Schmerz über sein makelloses Antlitz. Dachte er an Franz Leopold? Die anderen waren ihm vermutlich völlig gleichgültig. Seine Stimme war leiser, als er weitersprach. »Wir werden die Trümmer des Theaterbaus noch einmal genau untersuchen, sobald die Sonne untergegangen ist. Bis dahin können wir nichts tun. Vielleicht werden wir dann eine Antwort auf unsere Frage finden. Eines aber müsst ihr euch vor Augen führen. So ein gewaltiges Feuer kann einen Vampir vollständig vernichten und vielleicht werden wir niemals mit Gewissheit erfahren, ob die Vermissten in der Feuersbrunst verglüht sind.«
Die Erben sahen einander betreten an. War das möglich? Hatte so ein dummer Theaterbrand vier Erben, einen Unreinen und einen Wolf vernichtet? Konnte es keine andere Erklärung geben? Sie waren sich nachts immer so stark und unzerstörbar vorgekommen. Verunsicherte Blicke suchten Hoffnung bei den anderen.
Tammo straffte die Schultern. Er war nicht bereit zu glauben, dass er seine Schwester für immer verloren hatte. Die schlaue Alisa, die ihm mit ihrer Besserwisserei ständig auf die Nerven ging. Und mit ihren Ermahnungen, mit denen sie nicht müde wurde, den Leichtsinn ihres jüngeren
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