Die Erben der Nacht 04 Dracas
einer Laterne von gegenüber, sodass Latona ihre Züge erkennen konnte. War das möglich? Sie kannte die junge Frau nicht, war ihr vermutlich noch nie in ihrem Leben begegnet. Aber es kam ihr so vor, als habe sie ihr Bild treffend skizziert mehr als einmal in der Zeitung gesehen. Das würde passen. Und es würde erklären, warum die Polizei zwar Blutspuren in ihrem Zimmer, aber keine Leiche gefunden hatte, obwohl durchaus ein Verbrechen stattgefunden hatte! - Oder etwa nicht? Latona betrachtete die Vampirin mit wachsendem Interesse.
»Fräulein Clarissa von Todesco, einen guten Abend wünsche ich.«
Die Vampirin starrte sie an. Dann schüttelte sie unwillig den Kopf. »Das war ich einmal. Jetzt bin ich ein hässliches Wesen der Nacht, das anderen das Blut rauben will. Ich weiß nicht, wer Sie sind und kenne auch Ihren Namen nicht, doch ich kann Ihr süßes, warmes Blut riechen und möchte nichts lieber tun, als mich auf Sie stürzen und meine Zähne in Ihren Hals schlagen.«
Latona war sich nicht ganz sicher, ob Clarissa es ernst meinte. Vorsichtshalber wich sie ein Stück zurück. Hindrik seufzte und griff nach den Handgelenken der Vampirin.
»Das werdet Ihr ganz sicher nicht tun, Fräulein Clarissa. Das Rinderblut stärkt Euch ausreichend, und noch seid Ihr nicht in der Verfassung, alleine auf die Jagd gehen zu können.«
Clarissa wandte sich an Latona. »Hören Sie das? Ich werde mit Rinderblut gefüttert! Was hat man aus mir gemacht? Und dabei habe ich Luciano vertraut. Ich habe ihm meine Liebe geschenkt und ihm gesagt, ich würde ihm überallhin folgen, selbst bis ans Ende der Welt.« Sie schüttelte den Kopf, als könne sie es selbst nicht fassen.
»Aber so haben Sie Ihren Schwur dann doch nicht gemeint«, ergänzte Latona mitfühlend.
»Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, brauste Clarissa auf, hielt dann aber inne. Sie trat einen Schritt näher, so weit es Hindrik ihr gestattete, der noch immer ihr Handgelenk festhielt. »Oder vielleicht doch?« Sie schnüffelte hörbar. Ein Ausdruck von Verwirrung trat in ihre Miene, als sie sich an Hindrik wandte. »Sie ist gezeichnet. Ich wittere etwas in ihrem Blut. Ein Vampir hat sie gebissen und ihr Blut getrunken. Ist das möglich?«
Hindrik nickte. »Ja, so ist es. Ihr müsst lernen, Euren Instinkten und Witterungen zu vertrauen. Ihr nehmt nun viel mehr wahr, als Ihr es als Mensch konntet. Dies ist eine neue, aufregende Welt, die Euch vieles bietet, wenn Ihr bereit seid, Euer Schicksal anzunehmen.«
»Habe ich denn eine Wahl?«, fragte Clarissa bitter.
»Man hat immer eine Wahl«, gab Hindrik sanft zurück. »Doch noch ist Euer Dasein als Vampir zu neu und verwirrend für Euch, als dass ich Euch selbst entscheiden lassen könnte. Ich habe Luciano versprochen, Euch zu beschützen, bis er von seiner Reise zurück ist, und das werde ich auch tun. Ich habe mir vorgenommen, Euch keine Minute aus den Augen zu lassen. Das stellt mich jetzt vor ein Problem. Wie kann ich Miss Latona zum Spital begleiten, um Seymour zu holen, und gleichzeitig aufpassen, dass Ihr hier keine Dummheiten macht oder gar das Haus verlasst, um zu Eurer Familie zurückzukehren?«
»Sollen wir Clarissa mitnehmen?«, schlug Latona vor.
Hindrik erwog den Vorschlag. »Nein, das ist keine gute Idee. Wir können sie nicht mit ins Spital nehmen. Wir dürfen nicht auffallen. Was, wenn sie irgendetwas anstellt, das die Ärzte und Schwestern auf den Plan ruft. Nein, und in der Kutsche lassen können wir sie
auch nicht. Womöglich hat sie unseren Fiaker ausgesaugt, bis wir zurückkommen. Auch das würde mehr Aufmerksamkeit hervorrufen, als wir es uns wünschen.«
Clarissa stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Sprechen Sie nicht über mich, als sei ich eine unbeherrschte, verzogene Göre.«
Hindrik grinste breit. »Bezogen auf Euer Dasein als Vampir seid Ihr eine unbeherrschte, verzogene Göre, und deshalb kommt Ihr jetzt mit in den Keller.«
Sie schrie und versuchte sich loszureißen, doch Hindrik hatte sie fest im Griff und führte sie die Treppe hinunter. Latona hörte ein Poltern, dann kehrte Hindrik alleine zurück.
»Gehen wir?«, forderte er sie mit einer höflichen Geste auf.
Latona nickte und kehrte am Arm des Vampirs zur Kutsche zurück. Sie stiegen ein und forderten den Fiaker auf, sie zum Spital zu bringen. Schweigend saßen sie sich gegenüber. Latona wunderte sich, dass sie keine Angst hatte. Ja, nicht einmal ein wenig Furcht, alleine mit einem fremden Vampir in einer Kutsche zu
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