Die Erben der Nacht 04 Dracas
des Tieres versenkte.
Sie fanden in der Nähe noch drei Hunde und in der Kirche zwei Katzen, sodass sie leidlich gestärkt waren, ehe sie sich daran machten, sich zu wandeln. Die Fledermäuse hatten sich inzwischen wieder zu einem großen Schwarm gesammelt und waren bereit
zum Aufbruch. Sie überquerten die Donau in der Nähe der großen Kettenbrücke und flogen dann über Pest, den östlichen Stadtteil am flachen Donauufer, der wie Buda und Óbuda bis vor wenigen Jahren ein eigener Ort gewesen war, nun aber zusammen mit den anderen Teilen die Hauptstadt des Königreichs Ungarn bildete.
Bald schon lag die Stadt hinter ihnen und so weit sie sehen konnten, erstreckte sich das ungarische Tiefland vor ihnen. Die breiten Flussschleifen der Theiß zogen sich durch die weite Ebene, um sich irgendwo weit im Süden bei der serbischen Stadt Belgrad mit der Donau zu vereinen.
Der Schwarm flog über die Landschaft, die wenig Abwechslung für das Auge zu bieten hatte. Bis auf die Rinder- und Pferdeherden, die unter ihnen über endlose, graubraune Steppenlandschaften zogen. Ab und zu tauchte ein kleines Dorf unter ihnen auf. Dann überflogen sie die Theiß. Doch sobald sie den breiten Strom überquert hatten, glich die Landschaft wieder der am anderen Ufer. So verflossen die Stunden. Die Freunde verfielen in stummes Brüten. Nur ihr Flügelschlag teilte die Zeit in gleichmäßige Stücke.
Wenn das so weitergeht, dann frage ich mich, wo wir einen geschützten Ort für den Tag finden sollen, unterbrach Luciano das Schweigen. Es war längst nach Mitternacht und noch immer glitt die Landschaft unverändert unter ihnen dahin.
Sie werden schon einen geeigneten Platz finden, antwortete Alisa zuversichtlich.
Einen Platz, der für sie geeignet ist oder für uns?, hakte Luciano nach.
Ich hoffe doch, für uns alle! Alisa wollte sich ihre Zuversicht nicht nehmen lassen.
Luciano ließ nicht locker. Die Ansprüche der Fledermäuse an ihr Tagquartier sind nicht so streng wie die unseren.
Nun mischte sich Franz Leopold ein. Das ist ja alles schön und gut, aber können wir es im Augenblick ändern? Nein! Du kannst gerne versuchen, von unseren Begleitern eine Beschreibung des nächsten Tagesquartiers zu erhalten, wenn es dich beruhigt. Doch ganz gleich, was sie dir sagen, wir müssen uns den Ort ansehen und uns dann ein Versteck suchen. Irgendetwas wird es schon geben. Ein kleines Dorf, eine Scheune, ein Stall. Und wenn uns nichts anderes übrig bleibt, als unter den ausladenden
Schwenkarmen eines Brunnens in die Tiefe zu kriechen, dann werden wir das tun müssen.
Alisa wunderte sich, wie pragmatisch Leo die Situation hinnahm. Auf diesem Flug ins Ungewisse gab es keinen Platz für die Empfindlichkeiten, die sich die Dracas in ihrem Palais in Wien leisten konnten, das war ihr klar, aber dass sich Leo so darin fügte? Statt über den Verlust seiner Bequemlichkeiten zu jammern, flog er mutig voran, bereit, das Beste zu nutzen, was die Situation ihnen bot.
Sie dachte eine Weile über ihn und sein Verhalten nach. War sie wirklich überrascht? Nein. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann durfte sie das nicht sein. Natürlich war er ein typischer Dracas, überheblich und empfindlich, eitel und verwöhnt, doch schon damals in Rom hatte er gezeigt, dass unter dieser Schale ein ganz anderer Kern verborgen lag, den er erst zutage treten ließ, wenn der Ernst der Lage es erforderte. Und dieser Kern war eine ganz wundervolle Mischung aus unerschütterlicher Ruhe, Mut und Zuversicht, aus einem scharfen Geist, der sich in keiner noch so bedrohlichen Situation trüben ließ, und aus bedingungsloser Treue zu allen, denen er seine Freundschaft geschenkt hatte. Ein warmes Gefühl rieselte durch ihren kleinen Fledermauskörper. Egal, was er in der Vergangenheit Verletzendes gesagt und getan hatte, ganz gleich, wohin ihn seine Eitelkeit und seine Eifersucht getrieben hatten, hier und heute war es ein Segen, Leo als Verbündeten und Freund an ihrer Seite zu haben. Denn sie wusste mit absoluter Sicherheit, er würde an ihrer Seite bleiben und bis zu seinem letzten Blutstropfen für seine Freunde kämpfen.
Auch wenn ich die Hoffnung hege, dass es nicht so weit kommt, ließ er seine Stimme betont hochnäsig in ihrem Kopf erk lingen.
Leo! Verflucht noch mal, raus aus meinen Gedanken!, schimpfte Alisa.
Nun sei nicht so. Es war durchaus angenehm, deinen Überlegungen zu folgen. Ist mir denn gar keine Aufmunterung vergönnt? Obgleich ich gegen manche
Weitere Kostenlose Bücher