Die Erben der Nacht 04 Dracas
stets ins Leere gleiten ließ. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, jedes Mal begeistert »Touché!« zu rufen.
Der Himmel hatte längst schon seine tiefe Schwärze verloren und begann sich bereits Rosa zu verfärben, als die beiden Fechtmeister die Kämpfe einstellen ließen. Überall huschten die Servienten durch den Palast und zogen die schweren Vorhänge vor die Fenster, damit kein Lichtstrahl des beginnenden Tages von außen eindringen konnte.
Alisa sah sich um und musste feststellen, dass sie und Franz Leopold
zu den wenigen Erben gehörten, die keine Blessuren davongetragen hatten. Auch Ivy und Luciano schienen unverletzt, und Karl Philipp brüstete sich, keinen einzigen Treffer abbekommen zu haben, doch manch anderer hatte einiges einstecken müssen. Ganz vorn dabei Tammo und Fernand, die sich offensichtlich nichts geschenkt hatten. Zwar hatten die Fechtmeister an alle Erben ungeschliffene Schwerter ausgegeben, doch auch damit konnte man sich Kratzer, schmerzhafte Prellungen und Platzwunden zufügen. Am schlimmsten sah Chiara aus. Sie hatte mehrere Platzwunden am Kopf und die Ärmel ihres Kleides waren zerrissen und blutbefleckt. Karl Philipp hatte offensichtlich keine Gelegenheit ausgelassen, einen Treffer zu landen. Luciano schäumte vor Zorn und schwor Rache und selbst Franz Leopolds Miene verfinsterte sich und er murmelte etwas davon, dass das eines Dracas nicht würdig sei. Auch Rowena hatte ein paar Hiebe abbekommen, sich wohl aber ganz gut gegen Marie Luise behauptet. Diese stand nun jammernd in der Ecke und hielt sich den Arm mit dem zerrissenen Ärmel, wo Rowenas Schwert sie verletzt hatte. Anna Christina hatte dagegen wie Franz Leopold bewusst darauf verzichtet, ihre Überlegenheit auszunutzen. Zumindest war dies die einzig mögliche Erklärung, warum Raymond in noch so gutem Zustand vor ihnen stand.
»Sind wir hier jetzt fertig?«, fragte sie spitz. Theodor nickte. »Dann kann ich ja gehen.« Sie schüttelte ihr noch immer makelloses Abendkleid auf und rauschte hoch erhobenen Hauptes hinaus. Die anderen folgten ihr schwatzend in kleinen Gruppen. Alisa warf ihrem Bruder, der sich hinkend an Fernands Seite hinausschleppte, einen besorgten Blick zu. Seiner guten Laune schienen die zahllosen Prellungen und blutenden Wunden nichts anhaben zu können. Er grinste schief und versprach Fernand noch in der folgenden Nacht die Revanche seines Lebens. Der schlug begeistert ein. Alisa konnte nur hoffen, dass die Dracas den beiden nicht so schnell geschärfte Klingen in die Hand geben würden. Sonst konnte es wohl geschehen, dass Theodors Worte von den abgetrennten Gliedmaßen allzu schnell Wirklichkeit würden.
Sie trafen sich in der Gruft unter der Michaelerkirche. Nahezu das gesamte Kirchenschiff war von einem Dutzend inzwischen miteinander verbundener Grüfte unterhöhlt - manche nur kammergroße Familiengrüfte, andere geräumiger. Das weiteste Gewölbe unter dem Langhaus war die große Pfarrgruft. Überall türmten sich Särge, und dennoch waren diese nur ein kärglicher Rest all derer, die hier in der Michaelergruft bestattet worden waren. Jedes Mal, wenn die Gruft zu voll geworden war, hatte man die bereits zerfallenden Särge zerschlagen und samt der Knochen mit einer Schicht Erde festgestampft, um Platz für die frischen Toten zu schaffen. Inzwischen konnte man allerdings bei keinem der Toten hier mehr von frisch sprechen. Die letzten Leichen, die man hier unten bestattet hatte, mussten mehr als einhundert Jahre alt sein. Dennoch hatten sich die Körper in einigen Grüften erstaunlich gut erhalten und waren auf natürliche Weise zu Mumien konserviert worden.
Tonka konnte die Überreste von Tausenden Menschen unter ihren Füßen spüren, während sie ruhelos auf und ab ging und auf die Rückkehr der Vampire wartete, die sie zur Beobachtung ausgeschickt hatte. Nach und nach trafen sie auf dem Michaelerplatz ein, traten durch die Toreinfahrt des Zinshauses in den Hof und nutzten die Sargrutsche, um in die Gruft zu gelangen. Die Kirche selbst vermochten sie nicht zu betreten. Hier unten jedoch, wo es kein Weihwasser gab, keine Priester ihre Runden drehten und wo schon lange keine christlichen Rituale mehr abgehalten wurden, war ein guter Ort für die fremden Vampire, von denen viele noch nie eine solch große, umtriebige Stadt betreten hatten.
Tonka betrachtete die Vampire, die stumm vor sie traten. Sie hatte aus dem Heer der Unreinen die Stärksten gewählt, doch nun, da sie hier in Wien
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