Die Erben der Nacht 04 Dracas
seinem Vortrag zu unterbrechen«, hörte sie Jeanne murmeln.
»Bist du bereit?«
Tammo nickte, obwohl man ihm ansehen konnte, wie mulmig ihm zumute war. Alisa fragte sich, ob sie um ihren Bruder fürchten musste.
Es war der kürzeste Kampf, dem sie jemals beigewohnt hatte. Sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Theodor sich bewegte. Ein einziges Klirren, und das riesige Zweihänderschwert wurde Tammos Händen entrissen, wirbelte durch die Luft und landete in Carolines Hand. Tammo dagegen griff sich an die Wange, die nun von einer roten Linie geteilt wurde, aus der Blut herabzurinnen begann.
»Die Wunde ist nicht besonders tief«, sagte Ivy und hielt Alisa an der Hand fest, die beinahe zu ihrem Bruder gestürzt wäre. »Das wird ihn nicht umbringen.«
»Nein«, gab sie zu. »Aber vielleicht erinnert es ihn daran, das nächste Mal den Mund zu halten.«
»Du kannst auf deinen Platz zurückkehren.« Ungerührt fuhr Theodor mit seinem Vortrag fort, während sich Tammo mit einem schiefen Lächeln in die Reihe zurückstellte.
»Steht dir nicht schlecht«, sagte Fernand, der den Schnitt begutachtete.
»Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, als die Städte und ihr Bürgertum erstarkten, kamen neben dem Beruf des Fechtmeisters für junge Adels- und Bürgersöhne Fechtgesellschaften auf. Bekannt wurden die Marxbrüder und die Federfechter. Sie trafen sich alljährlich zur Herbstmesse in Frankfurt am Main, wo ihr Hauptmann gewählt und neue Meister aufgenommen wurden. Das Fechten wurde zum gesellschaftlichen Ereignis. Doch ehe wir
mit dem siebzehnten Jahrhundert zum Niedergang des Schwertkampfes und zum Aufkommen neuer, leichter Stichwaffen kommen, fangen wir heute mit den Grundpositionen oder auch Huten genannten Stellungen des Schwertkampfes an.« Noch während er sprach, nahm Caroline Schwerter von der Wand und warf sie den Erben zu, die sich bemühten, die Waffen am Griff aufzufangen. Dass dies den Dracas gelang, wunderte niemand. Doch auch Alisa, Ivy und sogar Luciano fingen ihre Schwerter auf. Nur Chiara fiel das ihre aus den Händen und auch Raymond ließ das seine fallen. Maurizio ergriff die Klinge und schnitt sich böse, während Tammo nun auch noch einen Kratzer an der Hand dazu bekam.
»Und nun sucht euch einen Gegner.«
Franz Leopold trat als Erster vor und verbeugte sich vor Alisa. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder ihn fürchten sollte.
»Fürchten ist sicher nicht falsch«, sagte er mit blitzenden Augen. »Ich bin ein brillanter Fechter!« Das konnte nicht einmal Alisa als seine übliche Angeberei abtun.
Fast so schnell wie der Dracas wählte Luciano seine Partnerin und verbeugte sich vor Ivy. Tammo wollte sich mit Fernand messen, Joanne mit Maurizio. Chiara stand der Schreck ins Gesicht geschrieben, als sich Karl Philipp vor ihr verbeugte.
»Ich breche ihm alle Knochen, wenn er meiner Cousine etwas antut«, knirschte Luciano, dem das ebenfalls nicht gefiel. Das nächste Paar war Sören gegen seinen Lycanafreund Mervyn. Und dann forderte Rowena Marie Luise auf. Raymond blieb übrig, doch Caroline brauchte nicht lange, ihm eine Partnerin zu besorgen. Mit blitzenden Augen griff Anna Christina, die noch in ihrer rotseidenen Abendgarderobe steckte, zum Schwert.
»Ruhe!«
Das Flüstern und Tuscheln verstummte und alle Augen richteten sich auf die Fechtlehrer.
»Der erste Begriff, den ihr lernen müsst, ist die Mensur. Das ist der Abstand der beiden Kämpfenden. Bei der weiten Mensur erreicht der Ort - das ist der Bereich der sich verjüngenden Klingenspitze - bei vorgestrecktem Schwert die Klingenmitte des Gegners. In der mittleren Mensur kann der Ort die Schläfe des Gegners
erreichen.« Während er sprach, demonstrierte er mit Caroline die Stellungen.
»In der nahen Mensur ist man nur noch auf Armeslänge voneinander entfernt. Hier kommen Knauf- und Halbschwerttechniken zum Einsatz, zu denen wir später kommen.«
Sie nahmen wieder die weite Mensur ein.
»Lektion zwei. Stellung und Schrittfolgen. Ich kann euch nur warnen. Unterschätzt niemals die Wichtigkeit richtiger Schrittfolgen! Sie sind die Grundlage für eine ausbalancierte Klingenführung. Schafft der Gegner es, euch aus dem Gleichgewicht zu bringen, habt ihr verloren. Ihr seid nicht mehr in der Lage, kraftvolle Schläge auszuführen, und es wird ihm ein Leichtes sein, euch das Schwert aus der Hand zu schlagen.«
Alisa nickte eifrig und hoffte, sie würde den Ratschlag stets beherzigen können. Nein, sie
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