Die Erben der Nacht 04 Dracas
eingetroffen waren und sie ihren Blick über die wilden Gestalten mit den vor Hass und Gier verzerrten Gesichtern schweifen ließ, fragte sie sich, ob ihre Wahl klug gewesen war. Keiner von ihnen war in der Lage, sich zwischen den Bürgern und den Mitgliedern der höheren Gesellschaft unauffällig zu bewegen. Nicht einmal, wenn man sie in anständige Kleider oder in Livrees gesteckt hätte. Also blieb ihnen nur ihre Schnelligkeit, in den Schatten der Nacht unsichtbar zu bleiben, und der Vorteil
der Überraschung. Falls sie diesen überhaupt noch auf ihrer Seite verbuchen konnten.
»Und, was habt ihr zu berichten?«
Eine verwahrloste Vampirin mit wild abstehendem grauem Haar und lückenhaften Zähnen ergriff das Wort.
»Branko und ich haben uns die ganze Nacht vor dem Haupttor herumgetrieben und keinen der Erben zu Gesicht bekommen.«
»Keinen der fremden Erben«, berichtigte der nicht minder wild aussehende Vampir undefinierbaren Alters an ihrer Seite.
Málka nickte. »Ja, der junge Franz Leopold ging am frühen Abend mit seinem Schatten in Richtung Hofburg und kam gegen Mitternacht zurück. Den hätten wir uns sicher schnappen können, aber du hast ja ausdrücklich gesagt, wir sollen Abstand halten.«
Die anderen hatten nicht mehr zu sagen. Sie waren um das Anwesen gestreift und hatten ausschließlich Dracas und deren Schatten ein- und ausgehen sehen. Manche waren mit der Kutsche gefahren. Unreine seien in Scharen ihrer Arbeit nachgegangen. Doch die anderen Erben hatten sich die ganze Nacht nicht blicken lassen.
Nichts Neues also. Nichts, was ihr nicht auch die Raben hätten berichten können.
»Sie werden die Erben doch nicht das ganze Jahr über in ihrem Palast eingesperrt halten?«, befürchtete Milan, ein kleiner dürrer Vampir mit großen Ohren und kaum noch einem Haar auf dem Kopf.
»Nein, das glaube ich nicht«, gab Tonka zurück. »Es sei denn, sie haben Wind davon bekommen, dass wir hier sind und worauf wir es abgesehen haben.«
Sie sah streng in die Runde. »Hat euch irgendeiner der Dracas entdeckt?«
Einmütig schüttelten die etwa ein Dutzend Vampire den Kopf.
»Dann ist es gut. Und nun sucht euch eine Ruhestätte. Die Sonne naht. Hier wird uns niemand stören und wir können uns den weiten Weg zu einem der Friedhöfe außerhalb des Linienwalls ersparen.«
Tonka wartete, bis sich ihre Begleiter zur Ruhe gelegt hatten, dann erst klappte sie einen der Holzsärge auf und warf das Skelett
darin achtlos in einen anderen, bereits halb zerfallenen Sarg, ehe sie sich in den Resten von Holzspänen und verrottetem Stoff zur Ruhe legte und den Deckel über sich schloss.
Sie würde morgen wieder die Raben schicken, nahm sie sich vor. Ihre Begleiter waren zu auffällig. Nicht dass sie sich nicht vor Menschen verbergen konnten. Doch die Sinne der Dracas waren schärfer, sodass der nächtliche Schatten allein nicht genügte, um den Vampir mit seiner Umgebung verschmelzen zu lassen. Darüber hinaus hatte Tonka gehört, gerade die Dracas würden über geistige Kräfte verfügen, die es ihnen ermöglichten, in die Gedanken anderer einzudringen. Mussten sie ihre Opfer dabei sehen und bewusst vorgehen? Tonka wusste es nicht, wollte aber auch kein Risiko eingehen. Nicht auszudenken, wenn einer der Dracas zufällig einen Gedanken der transsilvanischen Beobachter auffing, der ganz sicher nicht für ihn bestimmt war, und damit zu Baron Maximilian laufen würde. Dann wäre ihre Expedition gescheitert und der lange Weg von Siebenbürgen hierher umsonst gewesen.
Dabei hatte ihr Fürst, der Woiwode Bojislav, durchaus versucht, die Dracas für seine Pläne zu begeistern. Natürlich hatte man ihnen versichert, ihre Erben zu verschonen - auch wenn man nicht vorhatte, sich auf Dauer daran zu halten -, wenn sie im Gegenzug bereit waren, die ihnen anvertrauten fremden Erben den Upiry auszuliefern. Was dann mit ihnen geschah, hatten die Dracas nicht zu verantworten, und es musste sie auch nicht interessieren. Die alte Josepha Elisabeth, die den Clan einst mit ihrem Geliebten angeführt hatte, wäre der Sache nicht abgeneigt gewesen, war ihr die Akademie doch von Anfang an ein Dorn im Auge. Noch immer spuckte sie Gift und Galle. Doch Baron Maximilian wollte davon nichts wissen. Nun, dann eben nicht. Dann mussten sie ihren Plan auf andere Weise umsetzen.
Die Upiry würden warten und ihre Späher einsetzen, bis sich eine Gelegenheit bot. Irgendwann würden die Erben in Wien ausgehen. Irgendwann würde sich die Chance bieten,
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